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Timbuktu 01

Timbuktu

Sissako hat seinen Film zwar im Orkus der Gegenwart angesiedelt, aber dennoch nie die Ansprüche aus den Augen verloren, die sich aus der Faszinationskraft des Titels ergeben. Timbuktu ist ein kinematografisches «J’accuse», eine humanistische Antwort auf die islamistischen Besatzungstruppen, die sich bereits in den prägnanten, ökonomisch geschnittenen Eröffnungsszenen mit Beharrlichkeit und Konsequenz der Zerstörung der lokalen Zivilisation verschreiben.

Text: Patrick Straumann / 10. Dez. 2014

Nach Bamako hat Abderrahmane Sissako seine jüngste Produktion nun in die Provinz verlegt. Ein Nebenschauplatz? Kein beliebiger: Bei Alfred Tennysons Chapman war Timbuktu «eine mystische Stadt, Ziel hoher Unternehmungen»; für Bruce Chatwin evozierte der Ort «eine Losung, eine rituelle Formel, einmal gehört und nie wieder vergessen». Weniger eine Örtlichkeit als ein Fluchtpunkt, zumindest im westlichen Imaginationsraum: ein «antipodisches Arkadien», das seine Faszinationskraft trotz der Entkolonisierung Afrikas und trotz Google-Earth bewahrt hat.

Sissako hat seinen Film zwar im Orkus der Gegenwart angesiedelt, aber dennoch nie die Ansprüche aus den Augen verloren, die sich aus der Faszinationskraft des Titels ergeben. Timbuktu ist ein kinematografisches «J’accuse», eine humanistische Antwort auf die islamistischen Besatzungstruppen, die sich bereits in den prägnanten, ökonomisch geschnittenen Eröffnungsszenen mit Beharrlichkeit und Konsequenz der Zerstörung der lokalen Zivilisation verschreiben: erst der Pick-up, der eine Gazelle bis zur Ermattung durch die Wüste hetzt, darauf das Maschinengewehrfeuer, das die geschnitzten Statuen zerfetzt.

Der Kulturkrieg ist hier indessen keine Metapher: Es war, wie Sissako öfter betont hat, eine auf Youtube zirkulierende (und im «Westen» unkommentiert gebliebene) Steinigung eines unverheirateten Paars im Norden Malis, die ihn von der Notwendigkeit seines Engagements überzeugt habe. In seltenen Momenten hat dieser Wille zum unmissverständlichen Ausdruck auch die Wahl der Motive und die Charakterisierung der Figuren geprägt: Der Freischärler, der sich trotz des Rauchverbots im Versteckten eine Zigarette ansteckt, und der gescheiterte Rapper, der während der Videoaufnahme, die von seiner Bekehrung berichten soll, den Eifer des Konvertiten vermissen lässt, sind die demonstrativen Versatzstücke eines militanten, auf Rhetorik bedachten Plädoyers. Der Tuareg Kidane wiederum, der zusammen mit seiner Frau Satima und ihrer zwölfjährigen Tochter Toya im Nomadenzelt lebt, wird in einer idealisierten Postur vorgestellt, die direkt von Delacroix’ Orientalismus inspiriert scheint.

Sobald die Regie Distanz nimmt und das Geschehen kommentarlos verfolgt, werden indes auch Bilder sichtbar, in denen sich Abgrund und Alltag die Waage halten. Sissako hat seine Argumentationslinie nicht entlang der Kluft zwischen Salafismus und okzidentaler Aufklärung entworfen: Wenn Timbuktu um ein inneres Zentrum kreist, so liesse sich dieses am ehesten in der Moschee, einem lichtdurchfluteten Raum, situieren, die wie eine Zeitinsel vom Geschehen losgelöst scheint. Als die mit automatischen Waffen ausgerüsteten Männer die Betenden rekrutieren wollen, werden sie vom Imam darauf hingewiesen, dass der heilige Krieg in erster Linie eine «moralische» Dimension besitze. Es ist denn auch diese auf lange, beobachtende Einstellungen bauende Syntax, die der jäh einbrechenden Gewalt ihre brennende Wirkung verleiht – die junge Frau, deren Rücken wegen eines gesungenen Lieds wundgepeitscht wird, und die Steinigungsszene, die hier als Reminiszenz der Wirklichkeit wie ein schwarzer Spiegel des gegenwärtigen Horrors fungiert.

Timbuktu 02

Eine stringente Idee liegt in der Entscheidung, dem Einheitsdiskurs der Jihadisten die Polyphonie der lokal gebräuchlichen Sprachen entgegenzusetzen. Die Dialoge sind wechselnd auf Arabisch, Französisch, Englisch und auf Tuareg formuliert, was öfter zu komplexen Übersetzungsszenen führt, die von der Kamera wiederum mit verschwenderischer Grosszügigkeit begleitet werden. Meist jedoch sind es die Protagonisten, die sich der Okkupation und der willkürlichen Gesetzgebung widersetzen. Als die Islamisten ein Spielverbot erlassen, organisieren die Jugendlichen eine Fussballpartie ohne Fussball: Unvermittelt spiegelt sich das Absurde der neuen Legislation in den choreografierten Bewegungen und Gesten. Die disziplinierte Konzentration der jungen Männer überführt die Szene in ein Bild von abstrakter und zugleich wirkungsmächtiger Symbolik.

Ins Individuelle schwenkt der Plot, als Amadou, der Fischer, Kidanes Lieblingskuh tötet, weil diese seine im Fluss ausgelegten Netze zerstört hat. Der darauf folgende Streit zwischen den beiden Männern endet mit Amadous Tod, der von der Kamera (Sofiane El Fani, dem langjährigen Mitarbeiter Abdellatif Kechiches) in einer Totale von blendender Schönheit erfasst wird: Die sich neigende Sonne, die sich im Wasser spiegelt, und die weite Landschaft überführen den Moment in einen ahistorischen Raum, dessen Metrik allein von der Vergänglichkeit des Lebens bestimmt scheint. Es ist dieser Sinn für den Rhythmus und den Wechsel der Proportionen, das präzise Auge für das Verhältnis zwischen Bewegung und Stillstand, die timbuktu seine bemerkenswertesten Einstellungen verleihen: Satima, die in einer Borges’schen Szene abstrakte Figuren in die Sanddünen zeichnet, und Toya, die nach der Verhaftung ihres Vaters versucht, mit dem Handy in der Wüste ein Signal zu empfangen. Als Kidanes Todesurteil von den juristischen Instanzen bestätigt wird, sehen wir den Schatten einer Wolke über Toyas Gesicht ziehen.

Nachdem sich auch Amadous Angehörige gegen Kidanes Begnadigung ausgesprochen haben, wird Satimas Auftritt auf dem Exekutionsplatz zu einer letzten Beschleunigung führen. Das theatralische Finale lässt den Tod des Paars als eine sublimierte Abbreviatur der über Mali hereingebrochenen Gewalt verstehen. In ihrer Schärfe gibt sich die dramatische Geste allerdings nicht nur als eine zivilisatorische Antwort auf das Geschehen, Timbuktu ist auch ein politischer Akt, ein Versuch, der anonymen, sich stets weitenden Leere das prägnante Bild eines singulären Schicksals entgegenzusetzen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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