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Andere heimat 01

Die andere Heimat

Fernsehzuschauer kennen bereits seine drei ausufernden Heimat-Serien, die 1984, 1993 und 2004 über die Bildschirme flimmerten und in zahlreichen Stationen ein anspruchsvolles Zeitgemälde deutscher Geschichte von 1919 bis zur Jahrtausendwende zeichneten. Nun geht Edgar Reitz noch weiter zurück, ins vorrevolutionäre Deutschland des Jahres 1840, und erzählt, wenn man so will, ein Prequel zu seinem Lebenswerk.

Text: Michael Ranze / 23. Apr. 2014

Man kommt nicht umhin, die Lebensleistung von Edgar Reitz, nun im Alter von über achtzig Jahren noch gekrönt durch ein Meisterwerk, zu bewundern. Fernsehzuschauer kennen bereits seine drei ausufernden Heimat-Serien, die 1984, 1993 und 2004 über die Bildschirme flimmerten und in zahlreichen Stationen ein anspruchsvolles Zeitgemälde deutscher Geschichte von 1919 bis zur Jahrtausendwende zeichneten. Nun geht Reitz noch weiter zurück, ins vorrevolutionäre Deutschland des Jahres 1840, und erzählt, wenn man so will, ein Prequel zu seinem Lebenswerk. Prequels haben den Vorteil, dass man die Vorgänger nicht kennen muss. Der Zuschauer kann sich bedingungslos fallen lassen in Reitz’ Erzähluniversum, das so reich angefüllt und so meisterlich in Szene gesetzt ist, mit überbordenden Breitwandbildern in kraftvollem Schwarzweiss, in denen nur gelegentlich einzelne Farbtupfer Akzente setzen. Fast vier Stunden dauert das neue Familienepos, doch sie vergehen wie im Flug, so aufregend und spannend ist es inszeniert. Keine Angst vor langen Filmen also.

Handlungsort ist immer noch das fiktive Dorf Schabbach im Hunsrück. Hier beobachtet Jakob Simon, Sohn des Schmieds, gleich zu Beginn des Films von einem Felsen aus, wie eine Wagenkolonne zum Horizont fährt, um sich dort mit einer anderen zu vereinen, weiter zur Küste, um mit Schiffen nach Amerika überzusetzen. In Simons Blick ist schon jene Sehnsucht enthalten, die der Untertitel meint, eine Ahnung, dass es woanders besser sein könnte, ein Fernweh, das eine Flucht vor Hunger und Armut möglich erscheinen lässt. Eigentlich soll der junge Mann seinem Vater, der als Vorbote der Moderne an einer Dampfmaschine schraubt, in der Schmiede helfen. Stattdessen versteckt er sich irgendwo, um zu lesen, zu träumen, zu schwärmen von der neuen Welt. Für seinen Vater ist Jakob ein Tunichtgut, ein Taugenichts. Dass die Stärken seines Sohnes woanders liegen, er sich sogar für eine Sache über alle Massen begeistern kann, bedeutet ihm nichts. Jakob verschlingt dicke Bücher über Südamerika, Brasilien vor allem, das sich wie ein Sehnsuchtsort in seinem Kopf festsetzt. Reiseberichte, Völkerstudien, Naturbeschreibungen, Sprachlexika – er will alles über die Tier- und Pflanzenwelt wissen und lernt nicht nur Spanisch und Portugiesisch, sondern sogar die Sprache der Indios, der wohl grösste Beweis seines Auswanderungswillens. Sein Schwarm Jettchen käme sogar mit. Doch Jakob ist ein Mann des Geistes, nicht der Tat, ein Zauderer, der sich immer zu viele Gedanken macht. Bei einem ausgelassenen Dorffest wirft er Jettchen, im wohl traurigsten Moment des Films, nur schmachtende Blicke zu, anstatt sich ihr entschlossen und mutig zu nähern. Das übernimmt ausgerechnet Gustav, Jakobs vom Militär zurückgekehrter Bruder, der in Liebesdingen sehr viel forscher ist – mit schwerwiegenden Folgen: Das Mädchen erwartet ein Kind. Selbstverständlich heiraten Gustav und Jettchen, und dann verkünden sie auf der Hochzeitsfeier eine Entscheidung, die Jakob vollends erschüttert …

Andere heimat 02

Heimat und Sehnsucht – das sind die beiden schon im Titel genannten Pole, zwischen denen die Menschen förmlich gefangen sind. Sollen sie bei ihrer Familie bleiben, den schweren Lebensverhältnissen zum Trotz? Oder dürfen sie ihrem Fernweh, aber auch ihrem Liebesverlangen nachgeben? So sind die Protagonisten zwischen Sicherheit und Freiheit hin und her gerissen. Anstatt sich selbst zu verwirklichen, müssen sie sich wehren – gegen die Autorität der Eltern, die andere Vorstellungen von einem erfüllten Leben haben, gegen die politische Macht, die im Deutschland des Jahres 1842, sechs Jahre vor der Revolution, mehr und mehr hinterfragt wird, gegen Unwissenheit, weil erst die Bildung die Entfaltung der Persönlichkeit erlaubt. Reitz macht diese existenziellen Konflikte sprachlich in klugen, lebendigen Dialogen deutlich. Darüber hinaus liest Jakob gelegentlich im Off aus seinem Tagebuch vor, was den Film zusätzlich zeitlich verortet und die Problematik vertieft. Eine Problematik, die – auch das eine Stärke des Drehbuchs – von bestechender Aktualität ist: «Wir leben wieder in einer Zeit grosser Migrationsbewegungen. Nur sind wir im Gegensatz zu damals nicht Auswanderungsland, sondern Einwanderungsland. Ich erzähle den Menschen von heute, dass ihre Vorfahren vor nicht allzu langer Zeit aus sehr ähnlichen Gründen ihr Land verlassen haben und in ihren neuen Heimatländern eine Chance für ein neues Leben suchten. Das ist sozusagen eine Umkehrung der Perspektive, und die ist sehr heilsam», so Reitz im Gespräch mit Margret Köhler.

Beeindruckend auch, wie detailfreudig erstellte, historisch akkurate Bauten, sanfte, ein wenig entrückte Beleuchtung und Schwarzweissästhetik den Stil bestimmen. Besonders die Breitwandbilder von Kameramann Gernot Roll offenbaren einen Reichtum, der immer zum lustvollen Schauen einlädt, zum Erkunden der Schönheit der Natur mit ihren sanften Bergrücken und weiten Wiesen, der Gesichter der Menschen, die auch immer über Befindlichkeiten und Lebenserfahrung Auskunft geben, oder der Arbeit, die von handwerklichem Können und ökonomischen Zwängen zeugt. Dazu Reitz, befragt von Daniel Kothenschulte: «Man denkt, deutscher Fernsehfilm, historischer Stoff, und links und rechts, wo das Bild endet, endet auch die Welt. Aber was es noch gibt aus dem neunzehnten Jahrhundert, ist der Verlauf von Strassen und Wegen. Also haben wir unser fiktives Dorf auf den Grenzen eines historischen Dorfs errichtet und diese historische Seite der Grundstücksverläufe übernommen. Dann stellte sich die Frage: Gibt es überhaupt eine Bildgrenze? Bedeutet es, dass das Bild von den Rändern seine Spannung bezieht oder dass wir uns im Innern der Geschichte befinden und die Bilder gar keine Grenzen haben. So entschieden wir uns für das breite Scope-Format, wo das Bild breiter ist als der Blick. Und dann fingen wir an, Geschichten zu erzählen, die über die Baugrenzen hinausgehen.»

Reitz kann sich bei seiner Erzählung auf starke Schauspieler verlassen, vom Anfänger Jan Dieter Schneider bis zum altgedienten Profi, nämlich Marita Breuer, die der Heimat-Serie seit dreissig Jahren verbunden ist und hier für Komik sorgt, weil sie als Mutter der Brüder dem Tod mehrmals von der Schippe springt. Schneider hingegen macht die Zerrissenheit seiner Figur eindrucksvoll und glaubwürdig deutlich: mal zaudernd oder begeistert, mal hasenfüssig oder engagiert, mal träumend oder zupackend. Schneider erfasst die charakterlichen Pole seiner Figur mit einem Einfühlungsvermögen, das regelrecht staunen macht. Und dann, etwa drei Viertel des Films sind um, verneigt sich Edgar Reitz vor einem deutschen Kollegen, vor Werner Herzog. Herzog sucht mit Beginn seiner Karriere Geschichten ausserhalb Deutschlands, interessiert sich für Aussenseiter und Extremsituationen, er ist ein Forscher und Entdecker, der sich mit Vorliebe in unbekanntes (filmisches) Terrain vorwagt. Da ist es nur folgerichtig, dass er hier Alexander Freiherr von Humboldt verkörpert, den berühmten Geografen. Auf der Durchreise nach Paris schaut Humboldt mit seiner Kutsche auch in Schabbach vorbei, angelockt von Jakobs kenntnisreichen Briefen. Doch kaum steht Humboldt leibhaftig vor ihm, nimmt der junge Mann Reissaus. Zu gross ist die Bewunderung für den berühmten Naturforscher, zu klein das Selbstbewusstsein, dass er ihm mit seinem Wissen ebenbürtig sein könnte. Humboldt / Herzog unterstreichen noch einmal, dass es auch eine Welt ausserhalb von Schabbach gibt. Man muss nur den Mut haben, sie zu entdecken.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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