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Amazing catfish 01

Los insólitos peces gatos

Wie sich die isoliert lebende Familie auf den Tod der immer heiteren Mutter vorbereitet, erzählt Sainte-Luce nicht frei von Pathos: Vor allem Marthas Vermächtnis, kleine Abschiedsbriefe an alle ihre Kinder inklusive Claudia, sind rührselig. Aber meistens konzentriert sich die Regisseurin auf die kleinen Routinen und unverhofften Zärtlichkeiten des Alltags.

Text: Michael Pfister / 23. Apr. 2014

Ein tropfender Wasserhahn, vorbeirauschende Züge, nach Farben sortierte Fruit Loops, blinkende Weihnachtsbäume, eine nächtliche Busfahrt, ein Radio-Interview, Sirenen, ein Sicherheitscheck im Supermarkt … auf solche visuellen und akustischen Fetzen aus dem Leben einer jungen Frau in der Millionenstadt Guadalajara beschränken sich die ersten sieben dialoglosen Minuten des autobiografischen Erstlingswerks der jungen mexikanischen Regisseurin Claudia Sainte-Luce.

Die Protagonistin Claudia hat Bauchschmerzen, die sich als Blinddarmentzündung entpuppen. Im Spital lernt sie Martha kennen, die seit Jahren HIV-positiv ist und vier Kinder hat – von drei verschiedenen Männern, die allesamt gestorben oder verschwunden sind. Geführt von der Kamera Agnès Godards stolpern wir zusammen mit Claudia, die von Martha eingeladen, ja adoptiert wird, durch deren vollgestopfte Wohnung: halb Mausefalle, halb Vogelnest. Auch wenn der Film nicht ganz so surreal ist wie Ursula Meiers Home, lässt sich doch eine gewisse Seelenverwandtschaft erkennen.

Staunend taucht Claudia, die früh verwaist ist und in einem Supermarkt Wurst und Enthaarungswachs verkauft, in einen nervösen, manchmal etwas absurden Alltag zwischen halbherzigen Tischgebeten, Fernsehberieselung und Marthas Brechkrämpfen ein und lernt deren pubertierende und adoleszente Kinder kennen: Alejandra, die etwas verbitterte, unwirsche Älteste; die stämmige, gutherzige Wendy, die sich für Naturheilkunde interessiert und sich in die Arme schneidet; die hübsche Mariana, die gerne Grenzen austestet; und der verträumte Armando, der sich von Claudia den Unterschied zwischen einem quico, einem Schmatzer, und einer aspiradora, einem Staubsaugerkuss, erklären lässt.

Amazing catfish 02

Wie sich die isoliert lebende Familie auf den Tod der immer heiteren Mutter vorbereitet, erzählt Sainte-Luce nicht frei von Pathos: Vor allem Marthas Vermächtnis, kleine Abschiedsbriefe an alle ihre Kinder inklusive Claudia, sind rührselig. Aber meistens konzentriert sich die Regisseurin auf die kleinen Routinen und unverhofften Zärtlichkeiten des Alltags. Ihr Film besteht aus «Reflexionen aus dem beschädigten Leben» wie einst die «Minima Moralia» des Philosophen Theodor W. Adorno – nur dass sie sinnlicher und humorvoller daherkommen. Das ist vor allem éducation sentimentale, aber durchaus auch triftige Sozialkritik: Für einmal ist Mexiko nicht das Land der blutigen Drogenkriege, sondern eine Welt, in der die Männer fehlen. Und der Abklatsch eines Konsumparadieses à la Gringo, von dessen Verheissungen Familien wie diejenige Marthas ausgeschlossen bleiben. Der armen Mehrheit bleibt nur die schale Oberfläche mit Horoskopen, Karaoke-Partys und bunten Stickers wie demjenigen von den «Insólitos Peces Gato», den «aussergewöhnlichen Katzenfischen» – er klebt enigmatisch auf dem Familienaquarium, in dem eine asiatische Winkekatze hockt.

Aufbruchstimmung kommt auf, als die Familie ans Meer fährt, am Sandstrand herumtollt und in den endlosen Pazifik hinausträumt. Im gelben «Vocho», dem vollgestopften VW-Käfer, ertönt Julieta Venegas’ «Me voy». Doch das Road-Movie-Glück ist schnell wieder zu Ende, als Martha einen Zusammenbruch erleidet. Schön, dass es dieser kleine, menschenfreundliche, bald versonnene, bald schelmische Low-Budget-Film auf unsere Leinwände schafft. Dennoch würde man dort gerne auch die spektakuläreren, finster-poetischen Meisterwerke des aktuellen mexikanischen Kinos sehen, die mit ihrer Auslotung der Gewalt offenbar zu unerträglich sind, um sie dem heilen Europa zuzumuten – etwa den in Cannes ausgezeichneten Heli von Amat Escalante, eine Medusa von einem Film, die uns im bequemen Sessel versteinern lassen würde.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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