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Violette 01

Violette

Gleich auf Anhieb den ersten Satz zu finden ist ein Glück, das Schriftstellern im Kino ohne Zweifel häufiger widerfährt als im Leben. Er entscheidet ja so viel. Er soll den Leser locken, dessen Neugierde wecken, besiegelt vielleicht gar schon den Pakt, den der Autor mit ihm schliessen will. Wer weiss, ob der Auftakt zu Violette Leducs Debütroman «L’Asphyxie» nicht tatsächlich aus ihr heraussprudelte?

Text: Gerhard Midding / 23. Apr. 2014

Gleich auf Anhieb den ersten Satz zu finden ist ein Glück, das Schriftstellern im Kino ohne Zweifel häufiger widerfährt als im Leben. Er entscheidet ja so viel. Er soll den Leser locken, dessen Neugierde wecken, besiegelt vielleicht gar schon den Pakt, den der Autor mit ihm schliessen will. Wer weiss, ob der Auftakt zu Violette Leducs Debütroman «L’Asphyxie» nicht tatsächlich aus ihr heraussprudelte? Es ist einer jener Sätze, mit denen man bereits den Schlüssel zu einem Buch oder gleich zum Leben eines Autors in Händen zu halten glaubt.

Martin Provost imaginiert in seinem Film über die verfemte Schriftstellerin das Entstehen dieses Romananfangs als einen Augenblick diskreter Magie. Violette hat sich unter einen Baum gesetzt und nimmt Papier zur Hand. «Meine Mutter hat nie meine Hand gehalten», schreibt sie und hält einen Moment inne. Ihr Blick schweift zu den Ästen empor. Die Kamera folgt ihm, um dann wieder hinabzuschwenken. Nun gibt es kein Zurück mehr, eine Schriftstellerin ist geboren. Das Motiv der gehaltenen Hand wird sich von nun an beharrlich durch den Film ziehen: nicht nur als Widerruf eines Kindheitstraumas, auch als vielfach durchdeklinierte Geste der Ermutigung.

Bereits in Séraphine, der Biografie der Malerin Séraphine Louis, vertraute Provost 2008 den Händen eine zentrale Rolle an. Ihre Hand, die durch das plätschernde Wasser eines Baches streicht, ist das Erste, was wir von der Malerin sehen, die als Séraphine de Senlis einen späten, bescheidenen Platz in der Kunstgeschichte fand. Es ist eine verträumte Geste, die gleich zu Beginn das Einssein der jungen Frau mit der Schöpfung besiegelt. Sie fordert nichts. Wenn Séraphine später den Pinsel führt, lauscht sie den Einflüsterungen der Natur und der Engel. Ihr Schaffen begreift sie als eine Kommunion mit der Heiligen Jungfrau. Es ist gewiss kein Zufall, wenn Provost seine zwei Titelheldinnen jeweils in der Natur, fernab von den Menschen, ihr Wesen und ihre Bestimmung entdecken lässt. Beide Filme sind Chroniken von Frauenleben, die reich an Entbehrungen und Demütigungen waren. Beide kreisen um Künstlerinnen, deren gesellschaftliche Herkunft sie nicht für ihr Metier disponierte, die ihre Kunst ganz aus ihrem Inneren schöpfen mussten und zu Lebzeiten unverstanden blieben. Es ist eine schöne, wenngleich unabsichtliche Fügung, wenn Violette 1942 ansetzt, im Todesjahr der Séraphine de Senlis, denn die Schriftstellerin verfasste einen unveröffentlichten Essay über die Malerin.

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Violette Leducs Leben nähert sich der Regisseur jedoch mit einem anderen Furor. Er beklagt die Ungerechtigkeit, die ihr widerfuhr, mit grösserer Schärfe. Dass die Schriftstellerin erst spät Anerkennung und Ruhm erlangte, zeigt er als einen Akt sozialer Unterdrückung. Während Séraphine in sich ruht und durch ihre religiöse Inbrunst grosse Robustheit gewinnt, führt Violette ein weit ungeschützteres Seelenleben. Im Prolog erscheint sie als ein gehetztes Wild, das in der Zeit der deutschen Okkupation von Diebstahl und Schwarzmarkthandel lebt und dafür in Haft genommen wird. violette ist in Kapitel unterteilt, die nach den wichtigen Begegnungen in der Biografie der Künstlerin benannt sind: «Maurice» meint Maurice Sachs, «Simone» meint Simone de Beauvoir, «Jean» meint Jean Genet und so fort. Das fünfte Kapitel steht für Berthe, ihre Mutter; erst das sechste ist nach dem Ort benannt, an dem sie später Zuflucht findet, nach Faucon im Departement Vaucluse. Die Kapitelüberschriften könnten auf das in bio-pics übliche Defilee berühmter Namen verweisen. Sie markieren jedoch individuelle Erfahrungen emotionaler oder erotischer Zurückweisung. Die Männer im Leben Leducs sind fast ausnahmslos schwul, sie selbst ist bisexuell und verliebt sich in Simone de Beauvoir. Diese hält sie zwar auf Distanz, wird aber zu ihrer wichtigsten und loyalsten Förderin. Die lange, konfliktreiche Freundschaft der beiden Frauen steht im Zentrum des Films. Darin wird Simone auch zu einem nährenden Gegenbild zu Violettes Mutter. Der Erzählgestus des Films ist intim; er trägt relativ leicht an der Last, Kostümfilm zu sein. Sein Blick ist konzentriert auf ein karges Ambiente, bleibt immer wieder hängen an Räumen und vor allem Türen.

Künstlerbiografien haben in Frankreich seit dem immensen Erfolg von La môme (2007) Konjunktur. In der Regel bewegen sie sich zielstrebig zwischen zwei Fixpunkten: Sie gehen aus von einer Initialzündung (oft einer frühen Kränkung) und rollen sodann ein Leben von seiner vermuteten Bestimmung (dem Ruhm) her auf. Sie erforschen eine Existenz auf ihre sinnhafte Struktur hin, fingieren eine Folgerichtigkeit der Biografien. Sie schildern den Lebenskampf eines Künstlers, der radikal mit den Konventionen bricht, folgen dabei aber einer paradoxen Konventionalisierung: Sie geben vor, von einer Ausnahmeexistenz zu erzählen, und suchen doch beharrlich nach deren menschlichen Zügen. Tatsächlich endet Violette im Jahr 1964, als Leduc mit ihren Memoiren «La Bâtarde» endlich ihren Durchbruch erlebt. Aber Provost bereitet ihr Leben nicht als eine allgemeingültige Parabel über gemeisterte Hindernisse und Leid auf. Er tilgt die Ambivalenzen nicht. Emmanuelle Devos verleiht ihrer Figur eine grosse innere Leuchtkraft, will sie aber nicht domestizieren. Nie behauptete Provost in Séraphine, das Rätsel ihrer Inspiration enthüllen zu können. Auch diesmal begleitet er seine Heldin mit zärtlicher Anteilnahme. Aber Violette darf unergründlich bleiben, was auch eine Frage des Respekts ist. Sie stösst die Welt vor den Kopf. Als sie Exemplare ihres ersten Romans für Kritiker signieren soll, zeichnet sie stattdessen eine weibliche Scham hinein. Sie stellt unerbittliche, zerstörerische Forderungen ans Leben. Weshalb schreibt sie? Um nicht zu sterben.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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