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Alfonsina 01

Alphonsina

Schlicht Alfonsina hat Christoph Kühn seinen neuen Film genannt. Doch wer ist Alfonsina? Alfonsina Storni, 1892 während eines Heimaturlaubs ihrer ausgewanderten Eltern in Sala Capriasca, Lugano, geboren, 1938 in Argentinien verstorben, war Dichterin, Schriftstellerin, Journalistin, Lehrerin und (alleinerziehende) Mutter.

Text: Irene Genhart / 04. Juni 2014

Schlicht Alfonsina hat Christoph Kühn seinen neuen Film genannt. Doch wer ist Alfonsina? In Kenntnis von Kühns bisherigem Schaffen – Glauser (2011), Bruno Manser – Laki Penan (2007), Nicolas Bouvier, 22 Hospital Street (2005) – tippt man: «Schweizerin, Künstlerin, engagiert» und liegt so falsch nicht. Alfonsina Storni, 1892 während eines Heimaturlaubs ihrer ausgewanderten Eltern in Sala Capriasca, Lugano, geboren, 1938 in Argentinien verstorben, war Dichterin, Schriftstellerin, Journalistin, Lehrerin und (alleinerziehende) Mutter. Vor allem aber engagierte sie sich für die Sache der Frau. Thematisierte weibliche Befindlichkeiten und forderte die Selbstbestimmung der Frau in einer Macho-Gesellschaft, der solches fern lag.

In Argentinien wird Alfonsina bis heute als Wegbereiterin der modernen Frauenliteratur verehrt. Am Strand von Mar de plata erinnert eine Statue an sie, Ana Atorresis Roman «Un amor a la deriva» handelt von der Liebe zwischen Alfonsina und dem uruguayischen Schriftsteller Horacio Quiroga, und eines der populärsten argentinischen Lieder, «Alfonsina y el mar», handelt von ihrem Freitod. Das wehmütige Lied erzählt von der nie erfüllten Sehnsucht, der rastlosen Suche der Dichterin: Die Todessehnsucht, die Ahnung des Endlichen durchzieht Stornis Werk.

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«Wer bin ich?», fragt sie in Texten immer wieder. Diese Frage steht auch am Anfang von Kühns Film. «Beginnen wir mit der Schale, dem Äussern», fängt Storni ihre Selbstbeschreibung an. Stupsnase, hohe Wangenknochen, melancholisch geschwungene Lider, helle Augen, kleiner Mund: Unzufrieden war Storni mit ihrem Aussehen. Und doch ist da immer wieder der Blick in den Spiegel, der auch ein Blick in die Seele ist. Eine Seele, die zarter ist, als ihre oft ungeschminkten Worte schliessen lassen. Ihre Texte haben für Furore gesorgt – Gedichte etwa, in denen sie das Unwohlgefühl in der Grossstadt beschreibt oder ihre monotone Arbeit als Sekretärin. Sie haben ihr Lob, aber auch Kritik eingetragen, mit der sie nicht immer umgehen konnte: Labil war Storni und durchlebte depressive Phasen.

Kühn gibt der stimmungsvollen Beschreibung gegenüber Daten und Fakten den Vorzug und folgt Stornis Leben und Werk, Gedanken und Gefühlen. Dabei streift er die beglückende Kindheit in San Juan, die hart empfundene Jugend in Rosario. Zwölfjährig arbeitet Alfonsina in einer Fabrik, ein Jahr später zieht sie mit einer Theatertruppe durchs Land. 1912 landet sie, ein Lehrerdiplom in der Tasche, ledig und schwanger in Buenos Aires und beginnt zu publizieren. 1916 erscheint, von ihr selber finanziert, ihr erster Gedichtband «La inquietud del rosal». Ein Jahr später erhält sie für «Cantos a los niños» ihre erste Auszeichnung.

Eine Fülle von Zeitungsartikeln, Fotos und Filmausschnitten vermittelt nachhaltig Eindruck von Stornis Leben auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs: Kühn hatte das Glück, auf einen reichen Fundus von Archivmaterial und Erinnerungsstücken zugreifen zu können. Er hat Zeitzeugen und Biografen befragt und sich mit der Urenkelin, Merry Storni, auf eine Reise begeben. Stornis klangvolle Gedichte begleiten diese Reise mit einer melancholischen und doch immer wieder humorvollen Stimme, mit der sich assoziativ Iván Gierasinchuks Landschafts- und Naturaufnahmen verbinden. Kühn stellt mit Alfonsina einen poetischen Film vor, der den Rahmen einer gemeinen Biografie sprengt und der melancholischen Seele seiner Protagonistin so gerecht wird wie ihrem freien Geist.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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