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Baal

Baal (1969) ist Volker Schlöndorffs vierter Film. Während vierundvierzig Jahren war er nicht zu sehen, da die Erben Bertolt Brechts, des Autors der expressionistischen Dramavorlage des Films, nach der TV-Premiere weitere Aufführungen untersagten. Erst kürzlich widerriefen sie den von Brechts Ehefrau Helene Weigel 1970 ausgesprochenen Bann.

Text: Jürgen Kasten / 04. Juni 2014

Baal (1969) ist Volker Schlöndorffs vierter Film. Während vierundvierzig Jahren war er nicht zu sehen, da die Erben Bertolt Brechts, des Autors der expressionistischen Dramavorlage des Films, nach der TV-Premiere weitere Aufführungen untersagten. Erst kürzlich widerriefen sie den von Brechts Ehefrau Helene Weigel 1970 ausgesprochenen Bann. Baal konnte auf der Berlinale 2014 endlich gezeigt werden – und war ein Ereignis. Rechtzeitig zu Schlöndorffs fünfundsiebzigstem Geburtstag ist der Film in einer restaurierten Fassung auf DVD erschienen (und läuft in Deutschland auch in einigen Kinos).

«Spontanität und jungfräulicher Umgang mit der Filmsprache sind selten genug, und ich sehe mir am liebsten Filme an, die so gedreht sind. Oder aber ganz perfekte», verriet Schlöndorff 1966 in der «Filmkritik». Frappant perfekt beherrscht er die filmischen Mittel bereits in seinem Debüt Der junge Törless (1966). Es bringt ihm die Unterstützung eines US-Majors und mit Mord und Totschlag (1967) und Michael Kohlhaas – Der Rebell (1969) zwei gut budgetierte, aber etwas uninspirierte Genrefilme. Mit Baal, einer Fernsehauftragsproduktion, gedreht für gerade einmal 160 000 Mark, steuert er um, versucht gewissermassen den unbefangenen Erstling nachzuholen, um vielleicht doch noch zu einer Spontaneität ersten Grades zu gelangen. Der Gegenstand dafür ist gut gewählt. Brechts schwarzexpressionistisches Frühwerk «Baal» (1918/19) ist ein Exzess vitalistischer Kraftmeierei und anarchischer Sehnsucht zum Ursprünglichen. Zudem ist dieses rotzige Frühwerk ein Pamphlet gegen humanistische Einsicht und Wandlungsfähigkeit, damit auch ein Abgesang auf das hohe Lied der Menschlichkeit (zumindest im gegebenen gesellschaftlichen Kontext), das das idealistische expressionistische Drama damals kurzzeitig besang.

Die Figur des Baal ist eine grelle Modellierung des Künstlers als asoziales Subjekt, als unbehausten Landstreicher, der seinen animalischen Grundbedürfnissen nachgeht. Er verachtet Regeln, Geld, Ruhm und gesellschaftliche Anerkennung, die ihm als orchideenhaftes Dichtergenie mit Tierinstinkten anfangs noch angeboten wird. Er beharrt auf den freien, undomestizierten Blick (und entsprechendes Verhalten) auf alles und jeden. Baal tritt in den Vorortkaschemmen auf, bereit zu jeder Art der Entblössung. Als Entlohnung erwartet er Alkohol und Sex, also Mittel des Rausches. Daneben interessiert ihn nur noch der weite Himmel, den Dietrich Lohmanns handliche 16-mm-Kamera oft einfängt, um aus der Totalen zurückzupendeln auf das pockennarbige, hässliche Gesicht des Protagonisten. Der schont niemand in seinen radikal zuspitzenden Diskursen. Angezogen davon fühlen sich vor allem Frauen, die er sexuell benutzt, und der merkwürdige Prophet und verhinderte Komponist Ekard, vor dem er sich fürchtet, um sich später in ihn zu verlieben. Als der sich mit einer Frau einlässt, ersticht ihn Baal. Waidwund auch an sich selbst geworden, verkriecht er sich zu den Holzfällern und, als die ihn achtlos krepieren lassen, in den (Ur-)Wald. Das nötigt den Arbeitern dann doch Respekt ab: «Vor die Hunde gehen, das ist eine grosse Leistung. Wenn einer heut’ noch verrecken kann: Hut ab», lautet deren Resümee, das sich auch der Film zu eigen macht.

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Baal war bei der Ausstrahlung in der Prime Time der ARD ein Paukenschlag, der nicht nur die Brecht-Erben, sondern auch das TV-Publikum zur besten Sendezeit verstörte und irritierte. 26 Prozent Einschaltquote bedeutet, dass fast vier Millionen Zuschauer zusahen. Die interne ARD-Marktforschung registrierte rüdeste Zuschauerreaktionen, wovon «Blödsinn» und «Schweinerei» noch mildere Einschätzungen beschreiben. Die Moritat vom autonomen und deshalb asozialen Dichter Baal, der säuft, hurt, vergewaltigt, betrügt und mordet, verlegt Schlöndorff ins Hier und Jetzt der Münchner Vororte von 1969. Das Sujet ist bewusst alltäglich gehalten. Ganz wie Brecht es forderte, grenzt Schlöndorff illusionshemmend vierundzwanzig Einzelszenen durch deren pure Nummerierung voneinander ab und unterbricht damit den Fluss der Handlung. Jede Einstellung ist präzise beobachtend, stoisch unsentimental, aufgenommen mit einer Handkamera, als sei es eine Live-Reportage. Wenn da nicht die Fettschlieren an den Bildrändern oder Überbelichtungen durch punktuell überzeichnenden Lichteinfall wären. Beides gibt den Bildern eine beinahe psychedelische, merkwürdig irrlichternde Rahmenform, mit der Schlöndorff dem Fernsehbildschirm gerecht zu werden glaubte. Aussergewöhnlich ist aber vor allem der Dialogtext. Schlöndorff hat die kunstvoll kraftmeiernde, oft provokativ abschweifende, genauso oft aber Gedankensplitter ballende Sprache des jungen Brecht beibehalten. Er benutzt den expressionistischen Theatertext, um ihn in der Inszenierung filmisch zu überformen, mit dem Ziel, dadurch dem Fernsehen neue Bildformen zuzuführen. Das bewirkte schon 1969 Verfremdungseffekte, die heute noch stärker hervortreten. Die Belanglosigkeit der Orte, eine karge Wohnung, ein Schrottplatz, der Weg neben einer Autobahn, das steht in gewolltem Kontrast zu den philosophisch ausgestanzten Dialogen mit ihrer lyrischen Eindringlichkeit.

Schlöndorff hat auch später stets auf die Kraft des kunstvollen literarischen Dialogs (zulasten von Umgangssprache) gesetzt: der sei «im Gegensatz zum in Wirklichkeit gesprochenen einerseits dichter, knapper und präziser, anderseits deutlicher und reflektierter, indem er ausspricht, was man sonst nur empfindet oder denkt», weiss er bereits 1966. Die expressive Kunstsprache in Baal wird aufgefangen und gebrochen durch visuelle Nüchternheit in einer wie beiläufig wirkenden Inszenierung on location. baal kommt im Bildstil des cinéma vérité daher, ist aber ein artifiziell übersteigertes Stationendrama mit Anklängen an ein Roadmovie. Allerdings ist der bizarre Antiheld auf seinem Weg ins Innere der Unruhe noch zu Fuss unterwegs. Auch das ist bezeichnend: Er kennt nur die Eigenbewegung.

Eine Sensation für sich ist Rainer Werner Fassbinder als Baal, der darüber hinaus auch den Kern seiner damaligen Münchner Antitheater-Truppe in die Nebenrollen einschleuste. Schlöndorff exponiert die Hauptfigur sehr einprägsam, wenn die mitwandernde Kamera den stoischlässig rauchenden Baal in typischster Fassbinder-Pose auf seinem einsamen Weg durch die Felder aufnimmt. Aus dem Off trägt Fassbinder das Gedicht «Choral vom Manne Baal» in drängend-stolperndem Sprechgesang mit erstaunlicher Musikalität vor, unterlegt und zusammengebunden von einer wundervoll einfachen, wiederholt leitmotivisch eingesetzten Blues-Phrase Klaus Doldingers, die den Film auch beendet. Der trottend stampfende Gang, die messerscharfen Gedanken einer aggressiven Macho-Intellektualität und der sanft vorwärtstreibende Blues offenbaren nicht nur Charakter und Credo dieser Figur, sondern sind rückblickend auch als Fassbinder’scher Lebensentwurf interpretierbar. Fassbinder hat so viel von der verzweifelten Lebenslust und Lebenswut des Baal in sich, dass Volker Schlöndorff unwillkürlich (und ursprünglich wohl unbeabsichtigt) auch ein Porträt des 1969 noch wenig bekannten Regiekollegen gelungen ist.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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