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Fruitvale station 01

Fruitvale Station

Am Anfang flackern fiebrige, unscharfe und grobkörnige Bilder über die Leinwand, wahrscheinlich aufgenommen mit einem Smartphone. Schwer, sich hier zu orientieren: eine nächtliche U‑Bahn-Station, junge, verängstigte Schwarze, die auf dem Boden kauern, nervöse Polizisten, die Befehle bellen, Passagiere, die sich vom wartenden Zug aus schimpfend einmischen, Geschrei und Chaos. Und dann fällt plötzlich ein Schuss.

Text: Michael Ranze / 04. Juni 2014

Am Anfang flackern fiebrige, unscharfe und grobkörnige Bilder über die Leinwand, wahrscheinlich aufgenommen mit einem Smartphone. Schwer, sich hier zu orientieren: eine nächtliche U-Bahn-Station, junge, verängstigte Schwarze, die auf dem Boden kauern, nervöse Polizisten, die Befehle bellen, Passagiere, die sich vom wartenden Zug aus schimpfend einmischen, Geschrei und Chaos. Und dann fällt plötzlich ein Schuss.

Bilder, die bereits millionenfach auf Youtube heruntergeladen und angeschaut wurden. Es sind dokumentarische Aufnahmen, die Zeugen des Geschehens zufällig einfingen. Am frühen Morgen des Neujahrtages 2009 wurde in der Fruitvale Station von San Francisco der 22-jährige unbewaffnete Afroamerikaner Oscar Grant von einem weissen Polizisten erschossen. Er habe seine Pistole mit einem Elektroschocker verwechselt, so der Täter, und darum erhielt er nur eine Haftstrafe von zwei Jahren. Bilder und Fakten, die nicht nur San Francisco, sondern die ganze USA empörten und erschütterten. Es kam zu Protesten, Demonstrationen, Märschen und Ausschreitungen. Grants Tod wurde einmal mehr, nach Rodney King, zum Symbol eines immer noch virulenten Rassismus in den USA. Der junge Nachwuchsregisseur und Drehbuchautor Ryan Coogler, etwa in Grants Alter, verzichtet allerdings auf das Skandalöse und Sensationsheischende des Falls. Ihn interessiert nicht die Nachricht, sondern die Person dahinter, Oscars Menschlichkeit, sein Charakter, seine Stärken und Schwächen, seine Probleme und Konflikte, aber auch seine Hoffnungen, Träume und Ziele. Dazu der Regisseur: «Wenn jemand sein Leben verliert, liegt die wahre Tragödie doch darin, was er oder sie jenen Menschen bedeutete, die ihn oder sie am besten gekannt haben.»

Fruitvale station 02

So könnte der letzte Tag im Leben von Oscar Grant ausgesehen haben: Oscar ist ein Lebenskünstler, der die Dinge auf die leichte Schulter nimmt, ein Filou, der sich weigert, erwachsen zu werden. Sogar im Gefängnis sass er schon, wegen Drogenhandel. Und dann verliert er zu allem Überfluss auch noch seine Arbeit in einem Supermarkt – wegen wiederholter Unpünktlichkeit. Trotzdem will Oscar sein Leben endlich in den Griff bekommen. Darum bittet er seinen ehemaligen Chef im Supermarkt, ihn wieder einzustellen. Vergeblich. Von der letzten Tüte Marihuana könnte er die Miete bezahlen. Doch beim Treffpunkt mit dem Kunden schüttet er sie ins Meer. Einmal, in einer metaphorisch zu stark geratenen Vignette, nimmt sich Oscar eines verletzten Hundes an, der von einem Auto überfahren wurde. In wenigen Szenen zeichnet Coogler so das Profil eines jungen Mannes, der zwar kein Heiliger ist, aber auch kein schlechter Kerl. Der Schauspieler Michael B. Jordan, bekannt aus der TV-Serie The Wire, verdeutlicht bewundernswert die ganze Bandbreite von Grants Charakter. Von der Zärtlichkeit, mit der er seine eifersüchtige Freundin Sophia versöhnt, über die liebevolle Fürsorge für seine vierjährige Tochter Tatiana bis zum Respekt, den er seiner streng religiösen, prinzipientreuen Mutter entgegenbringt. Jordan interpretiert Oscar in einer kraftvollen, anrührenden Darstellung, die gelegentlich an Denzel Washington erinnert, als grossen Jungen, der mit seinem charismatischen Charme seine Mitmenschen immer wieder für sich einnimmt. Allein durch Augen und Stimme drückt er unterschiedliche Stimmungen aus: seine Freude, seinen Ärger, seine Angst. Das macht ihn auch für den Zuschauer zur Identifikationsfigur, der man nur das Beste wünschen möchte. Denn dass Oscar alles versucht – daran gibt es keinen Zweifel. Sogar die Einkäufe für seine Mutter, die heute, am frühen Abend des Silvestertages, ihren Geburtstag feiert, hat er besorgt. Nach dem Essen mit der ganzen Familie zieht Oscar mit Sophia und einigen Freunden weiter in die Nacht von San Francisco, um mit Feuerwerk und ausgelassener Stimmung das neue Jahr zu begrüssen. Doch auf der Rückfahrt mit der Metro trifft Oscar auf ehemalige Mithäftlinge, die wir bereits aus einer Rückblende kennen. Es kommt noch während der Fahrt zum handfesten Streit, an der U-Bahn-Station Fruitvale greift die Polizei ein. Und dann fällt in der hitzigen Stimmung jener Schuss, der zum Beginn des Films zurückführt.

Coogler hat sein Drehbuch 2012 am Screenwriters Lab des Sundance Institute verfeinert und verbessert, die Dreharbeiten dauerten nur zwanzig Tage und fanden an Originalschauplätzen statt. Das gibt dem Film etwas Raues, Zupackendes und Unmittelbares. Nach dem bestürzenden Prolog lässt sich der Film zurückfallen, um seinen Protagonisten in sein Milieu einzubetten. In prägnanten Episoden entsteht so ein Gesamtbild afroamerikanischen Lebensgefühls in der Suburb, geprägt von Armut und Sorgen und doch aufgefangen durch soziale Kontakte. Die Lebenstüchtigkeit und Rigorosität der Frauen, besonders die der von Octavia Spencer wuchtig dargestellten Mutter, geben Oscar immer wieder Halt und Richtung. Zuweilen fühlt man sich sogar an Spike Lees Do the Right Thing erinnert, der allerdings in Bezug auf Vorurteile und Rassenhass sehr viel plakativer und provokanter argumentiert. Coogler hingegen setzt auf leisere Töne, für ihn ist der alltägliche Rassismus in den USA eine unterschwellige, aber immer noch andauernde Tatsache. Armond White, afroamerikanischer Kritiker der «New York Press», schrieb darum: «Young Black males rarely get such a smoothly beautiful portrait as in >Fruitvale station>.» Ein komplexer und nuancierter, aber auch erschütternder Film über Gewalt und Misstrauen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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