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Ilo, ilo

Ilo ilo ist das Langfilmdebüt des jungen Regisseurs Anthony Chen, der seine Ausbildung in England absolviert hat. Der Erfolg der unabhängigen Produktion ist für Singapurs kleine Szene bemerkenswert.

Text: Natalie Böhler / 04. Juni 2014

Die philippinische Stadt Ilo Ilo ist Teresas Heimat. Sie verlässt sie, um nach Singapur auszuwandern, wo sie bei einer Kleinfamilie als Hausangestellte arbeitet. Als Fremde, die in die Familie eintritt, bringt sie die schon bestehenden Spannungen erst richtig zum Vorschein: Der Vater wird von seinem Arbeitsalltag immer stärker aufgerieben, die Mutter strauchelt in der Erziehung ihres widerspenstigen Sohns. Die Familienmitglieder haben sich emotional voneinander entfernt: Während der gemeinsamen Mahlzeiten herrscht verstocktes Schweigen.

Die wachsende Entfremdung steht im Kontrast zur häuslichen Enge, in der die Familie lebt. Singapurer Wohnverhältnisse sind notorisch beengt: Um die stetig wachsende Bevölkerung auf der Insel unterzubringen, hat der Staat seit den sechziger Jahren riesige Blocksiedlungen errichtet. Sie sind auf die Mittelklasse ausgerichtet, die im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs neu entstanden ist und in Form von Kleinfamilien als mustergültige Bürgerschaft Singapurs gilt. Durch eine extreme Verdichtung möchte das staatliche Wohnprogramm den spärlichen Platz unter den Bewohnern aufteilen.

In einer so rigide kontrollierten Stadtplanung ist jeglicher freie Raum ein Luxus – physisch wie auch psychisch. So bleiben den Familienmitgliedern im mässig glückenden Versuch, störungsfrei zusammenzuleben, bloss kleine Fluchten aus der zwischenmenschlichen Enge: Der Vater raucht gelegentlich die heimliche Zigarette im Treppenhaus, die Mutter sucht Trost bei einer Freikirche, und Teresa probiert verstohlen den teuren Lippenstift der Hausherrin aus. Selbst die Hühner auf dem Balkon, die der zehnjährige Jiale als Haustiere halten darf, stehen sich im kleinen Käfig gegenseitig auf den Füssen herum. So gut es geht, versucht Teresa in der feindlichen Atmosphäre zurechtzukommen und den bockigen Jungen in den Griff zu kriegen.

Die Kamera unterstreicht die Distanz zwischen den Leuten mit Aufnahmen in kühl schimmernden Weiss- und Grautönen. Episodisch verknappt und atmosphärisch dicht erzählt Anthony Chen, wie Teresa und Jiale sich trotz anfänglicher Skepsis gegenseitig vertrauen lernen und eine Freundschaft zwischen ihnen wächst. Die Wärme, die daraus entsteht, strahlt auf Jiales Eltern ab und regt sie an, ihr marodes Zusammenleben genauer zu betrachten. Dabei kommt es aber nicht zu sentimentalen Versöhnungsszenen, alle Figuren bleiben bis zum Filmende ambivalent gestaltet. Indem der Film auf einfache Sympathielenkungen und eindeutige Parteinahmen verzichtet, beschreibt er, wie herausfordernd es manchmal sein kann, tagtäglich mit unseren Nächsten auszukommen. Die glänzenden Leistungen aller Schauspieler, insbesondere des jungen Koh Jia Ler, unterstreichen die komplexen Figurenzeichnungen.

Dass die Handlung des Films historisch bereits etwas zurückliegt, zeigt sich erst bei näherem Hinsehen. Ilo ilo spielt während der Wirtschaftskrise, die 1997 die aufstrebenden Staaten Südostasiens hart traf. Rigorose Sparmassnahmen, Massenentlassungen und der Rückzug ausländischer Investoren waren an der Tagesordnung. Für Singapur, das unter den südostasiatischen Ländern besonders stark auf die Ideologie von Fleiss, Wirtschaftswachstum und Fortschritt baute und damit bis zum Crash grossen Erfolg hatte, bedeutete die Krise nicht nur eine ökonomische Infragestellung, sondern auch eine der Identität: Das Land – wie die Familie im Film – wurde zur Selbstreflexion und Neuorientierung gezwungen.

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Erst im Kontext der Krise werden die Spannungen in der Familie richtig verständlich: Das Gerangel um den sozialen Aufstieg und die Angst vor dem Wohlstandsverlust haben die Eltern hart werden lassen, ihre Gedankenverlorenheit wiederum lässt ihren Sohn rebellieren. Dass es sich um eine chinesischstämmige Familie handelt, in der die Werte des Wohlstands, des Familiensinns und des Erfolgs grundlegend sind, verschärft die Lage zusätzlich. So weitet sich die Perspektive der Erzählung: Ilo ilo wächst über das Format eines Familiendramas hinaus und wird zu einer universellen Beobachtung darüber, wie Menschen im Privaten auf schwierige äussere Umstände reagieren, über die sie keine Kontrolle haben.

Auch Teresa handelt aus finanzieller Not. Haushaltshilfen wie sie bilden eine der grössten Arbeitsmigrationsbewegungen in Südostasien: Zu Tausenden verlassen Frauen ihre Heimat und oft ihre Familien, weil Haushaltsarbeit in der Fremde für sie die einzige Möglichkeit darstellt, ein Einkommen zu erlangen. Sie wandern in reichere Gegenden wie etwa Hongkong, Taiwan oder den Mittleren Osten aus, wo sie aufgrund ihrer Arbeit oft nur einen halblegalen Aufenthaltsstatus haben und sich wegen niedriger Löhne illegale Zweitverdienste suchen – was ihre Situation noch schwieriger macht. Auf der Wohlstandsinsel Singapur bilden philippinische “Maids” zusammen mit südindischen Bauarbeitern ein riesiges Heer von niedrig entlöhnten, saisonalen “Gastarbeitern”, die im Land gebraucht werden und willkommen sind, solange sie ihre Arbeit verrichten, länger aber auf keinen Fall.

Ilo ilo ist das Langfilmdebüt des jungen Regisseurs Anthony Chen, der seine Ausbildung in England absolviert hat. Der Erfolg der unabhängigen Produktion ist für Singapurs kleine Szene bemerkenswert. Seit der Unabhängigkeit Singapurs 1965 gab es während Jahrzehnten kein eigentliches Filmschaffen, abgesehen von Fernsehproduktionen. Mit der Zeit siedelten sich Produktionshäuser an, die formelhaften Mainstream herstellten und vor allem die Horror-, Action- und Komödiengenres bedienten.

Erst Mitte der neunziger Jahre gelang es Eric Khoo, mit seinen unabhängig produzierten sozialkritischen Filmen eine neue Richtung vorzugeben. Durch seinen Blick auf die Unterschicht Singapurs und ihre sozialen Probleme öffnete Khoo eine neue filmische Perspektive auf den Stadtstaat, der sich selbst gerne als sicher, sauber und fortschrittlich darstellt. Schliesslich waren es aber die kommerziellen Erfolge von Jack Neos Komödien, die vor der Jahrtausendwende die Filmszene belebten. Als ehemaliger Fernsehkomödiant versteht es Neo, die Alltagsprobleme der kleinen Leute auf humorvolle Weise zu thematisieren. Dass er beliebte Fernsehstars castet und die Dialoge oft in chinesischen Dialekten statt in der offiziellen Landessprache Mandarin verfasst, verhilft ihm zusätzlich zu Popularität.

Seit etwa einer Dekade ist die Filmszene weitergewachsen. Junge unabhängige Filmemacher haben erste Langspielfilme gedreht, etwa 15: The Movie von Royston Tan, Red Dragonflies von Liao Jiekai oder Sandcastle von Boo Junfeng. Sie scheuen sich nicht, heikle Themen wie die Rassenfrage, die Gewalt unter Jugendgangs oder die antikommunistischen Staatskampagnen der siebziger Jahre anzusprechen; wegen der strengen Zensur tun sie dies jedoch mit viel Fingerspitzengefühl und oft indirekt.

Der Filmmarkt in Singapur, das fünf Millionen Einwohner zählt, ist so klein, dass sich nur mit kommerziellen Grosserfolgen Gewinn machen lässt, es sei denn, die Filme werden vom Ausland gekauft. Deshalb ist die Caméra d’or, die Ilo ilo in Cannes gewann, nicht nur prestigereich, sondern auch ein wirtschaftlicher Lichtblick für die Branche und Anthony Chen momentan ihr Shooting Star. Ob ihm weitere einheimische Filmemacher ins internationale Filmbusiness folgen werden, wird die Zukunft weisen; Ilo ilo lässt darauf hoffen.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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