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Der Kreis

Der Kreis erzählt die gemeinsame Geschichte von Ernst Ostertag und Robert Rapp. Es ist aber auch die Geschichte der höchsten Blüte und letzten Jahre der Zürcher Homosexuellenorganisation «Der Kreis», die im Kern aus einem engen Freundeskreis um den Theatermann «Rolf» Karl Meier bestand.

Text: Irene Genhart / 24. Sep. 2014

Ein schöner Film. Ein kleiner grosser, grossartiger Film. Ein Film, der in den ersten Szenen schon die Herzen der Zuschauer erobert: «Ich weiss nicht, zu wem ich gehöre, ich bin doch zu schade für einen allein …», singt mit neckischen Wangengrübchen und schmelzendem Timbre eine Frau, die eigentlich ein Mann ist. Man schreibt in Zürich das Jahr 1956. Der Sänger steht während eines Festes, das «Der Kreis» organisiert hat, auf der Bühne des Theaters Neumarkt. Es ist Röbi Rapp, der grosse Travestiestar der Limmatstadt. Im Publikum sitzt der frischgebackene Gymnasiallehrer Ernst Ostertag, der zum ersten Mal eine Veranstaltung der Zürcher Homosexuellenorganisation besucht. Das ist riskant, weil seine Wahl zum Lehrer noch nicht bestätigt ist. Ernst ist hell begeistert von Röbis Performance und verwettet seinen halben Lohn, dass der kein Mann ist.

Der neue Film von Stefan Haupt könnte durchaus auch «Ernst & Röbi» heissen. Wobei der Titel Der Kreis selbstverständlich nicht falsch ist: Es ist ein in vieler Hinsicht hybrider Film, der sich wohltuend unbekümmert nicht um Genres und Normen schert. Es ist ein Biopic, eine Lovestory, aber auch ein Zürcher Historienfilm, trägt der Spur nach Züge eines auf Fakten beruhenden Krimis und ist auch ein bisschen ein Musical.

Angelegt ist Der Kreis als Spielfilm, der sich dokumentarischer Methoden und Materialien bedient – oder aber als Dokumentarfilm mit fiktiven Einschüben. Er ist dies so unangestrengt und elegant, dass es selbstverständlich anmutet, wenn Matthias Hungerbühler und Sven Schelker als Ernst und Röbi das Treppenhaus zu ihrer ersten gemeinsamen Wohnung in den siebziger Jahren hochsteigen und sich der Zuschauer beim Öffnen der Wohnungstür den heute 83-jährigen Protagonisten gegenübersieht.

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Der Kreis erzählt die gemeinsame Geschichte von Ernst Ostertag und Robert Rapp. Es ist aber auch die Geschichte der höchsten Blüte und letzten Jahre der Zürcher Homosexuellenorganisation «Der Kreis», die im Kern aus einem engen Freundeskreis um den Theatermann «Rolf» Karl Meier bestand. Die Vereinigung hatte in einem Kellerraum im Niederdorf ihren Sitz. Sie engagierte sich für die Rechte der Homosexuellen und gab die dreisprachige Zeitschrift «Der Kreis – Le Cercle – The Circle» heraus, die in Kurzgeschichten, Gedichten und Fotos der Homoerotik frönte und über schwule Aktivitäten aus der ganzen Welt berichtete.

Gegründet wurde die Zürcher «Homophilenorganisation», wie manche ihresgleichen, in den dreissiger Jahren. Anders aber als anderswo überdauerte sie den Zweiten Weltkrieg und blühte danach richtig auf. Ab 1948 betrieb «Der Kreis» im Gebäude des Theaters am Neumarkt einen Club und führte regelmässig Veranstaltungen durch, die Publikum aus ganz Europa anlockten: Bis zu achthundert Männer sollen Mitte der fünfziger Jahre jeweils für ein «Kreis»-Wochenende nach Zürich gereist sein.

Robert Rapp ist der grosse Star der Vereinigung. Er wird 1930 als zweites Kind deutscher Eltern in Zürich geboren, verliert früh den Vater, ist als Kind oft bei seiner Mutter an der Garderobe des Schauspielhauses anzutreffen. Er spielt als Elfjähriger in Edmund Heubergers Das Menschlein Matthias (1941) die Hauptrolle und gilt danach als der kommende Kinderstar der Schweiz. Doch es will nicht klappen mit der Karriere, und so macht Röbi eine Ausbildung zum Friseur. 1948 wird er mit einer Sonderbewilligung als Minderjähriger in den eigentlich nur Erwachsenen zugänglichen «Kreis» aufgenommen. 1956 tritt Ernst Ostertag in sein Leben: Obwohl Rapp auf der Bühne weiterhin Marlene Dietrichs Lied von der Liebe, die für den einen alleine zu schade ist, singt, werden die beiden ein festes Paar.

Es sind bewegte Zeiten, die Rapp und Ostertag gemeinsam durchleben, bis sie sich schliesslich am 1. Juli 2003 als erstes gleichgeschlechtliches Paar der Schweiz im Zürcher Stadthaus das Ja-Wort geben. Nach Morden im “Stricher-Milieu” ändert sich Ende der fünfziger Jahre das bis anhin liberale Klima in Zürich. Die Polizei führt in Schwulenlokalen Razzien durch und legt ein Register an. 1960 erlässt der Stadtrat ein Tanzverbot für Männer mit Männern. Aber auch im Innern der Vereinigung brodelt es: Die jüngeren Mitglieder sind kompromissloser als Rolf, der, wenn es sein muss, auch mit der Sittenpolizei den Konsens sucht. 1961 wird das «Kreis»-Lokal geschlossen und 1967 die Zeitschrift eingestellt, in der Folge löst sich die Organisation auf. Es sind letztlich die Jugendunruhen und der Globus-Krawall, die die Polizei und damit das Interesse der Öffentlichkeit endgültig von den Homosexuellen ablenken; in den Siebzigern dann entstehen erste neue Nachfolgeorganisationen.

Röbi und Ernst wissen, fesselnd zu berichten. Haupt unterlegt ihre Erzählungen nicht nur mit reichlichem Dokumentarmaterial – Fotos, Zeitungsberichten, Filmausschnitten –, er inszeniert auch einige Begebenheiten aus ihrem Leben nach. Matthias Hungerbühler und Sven Schelker sind so charismatisch und charmant wie ihre Vorbilder: ein Paar, das aneinander und miteinander wächst, auch wenn Ernsts Wahl zum Lehrer und Röbis Einbürgerung dadurch in Gefahr geraten. Haupt ist ein informationsreicher, spannender, atmosphärisch dichter und auch berührender Film gelungen. Er ist wichtig, weil er weiterträgt, wofür Rapp und Ostertag sich ihr Leben lang engagierten und was noch immer nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist: dass ein Mensch, unabhängig von seinem Geschlecht, lieben darf, wen er will.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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