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Faust

In Fausts Person, sagt Alexander Sokurow, sei alles angelegt, was Hitler, Lenin und den Tenno ausgemacht habe. Goethes Dichtung ist für ihn Ausgangspunkt und Schlussstein seiner Tetralogie.

Text: Martin Walder / 24. Sep. 2014

Wer er eigentlich sei, will Faust in Alexander Sokurows Film vom Gnom mit dem Wurmfortsatz am Steiss statt vor den Lenden endlich einmal wissen. «Ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute schafft», antwortet dieser, verachteter Kreditgeber in einer wuselnden deutschen Kleinstadt des Biedermeier. In sie sind wir zum Anfang aus der Vogelschau digital hinabgetaucht wie in einem Film von Peter Jackson. Haben wir richtig gehört? Die Hälfte des berühmten goetheschen Mephisto-Zitats wird unterschlagen? Jene Kraft, die stets das Böse will, gar nicht in Betracht gezogen? Mephisto nicht mehr der ewig mit Gott ringende Teufel? Mephisto also banal?

Die Frage interessiert, wenn Faust (2011) – «frei nach Goethe» – Sokurows Tetralogie der Macht abschliesst, der Regisseur würde vielleicht eher sagen: umschliesst. Sie galt historischen Potentaten des zwanzigsten Jahrhunderts, Hitler (Moloch, 1999), Lenin (Taurus / Telets, 2000) und dem japanischen Kaiser Hirohito (Die Sonne / Solntse, 2005). Die Faust-Dichtung bildet sozusagen das philosophische Gebäude darüber. Den Filmen zu den drei realen Personen gemeinsam ist, dass sie das Böse in Momenten aufspüren, da es wohl existent, aber der Monstrosität bar scheint. Es sind geradezu intime Momente. Lenin 1922 auf dem Sterbelager, fernab auf Gorkis Datscha. Hitler 1942, manisch-depressiv, auf dem Kehlstein hoch über Berchtesgaden mit dem Albtraum Stalingrad am Horizont. Der Tenno 1945 nach dem Feuersturm von Nagasaki in seinem Bunker eingesponnen und in meeresbiologische Fragen vertieft, bevor er zur Kapitulation schreitet.

Lenin in Taurus stirbt und übergibt an Stalin. Wozu es die Revolution brauche, fragt er diesen bei einem Besuch einmal rhetorisch. Als humanistischen Akt, antwortet sein schrecklicher Vollstrecker sanft. «Um die Seelen zu streicheln?», fragt Lenin zurück. Stalin: «Natürlich nicht alle.» Wie zynisch auch immer, die Seele kommt im Diskurs der Potentaten also vor, und damit die Frage nach der Unsterblichkeit. Hitler in Moloch schlägt das Entsetzen der aufmüpfigen Eva Braun in den Wind: «Wir werden den Tod besiegen!» Eva: «Wie kannst du so etwas sagen. Tod ist Tod. Der ist nicht zu beherrschen.» Aber Hitlers Tross braust den Berg hinunter davon und fährt unbeirrt weiter dem Untergang, dem eigenen und jenem seines Volks, entgegen. Einzig der Tenno in Die Sonne bewahrt Land und Menschen durch die Kapitulation und den Verzicht auf seinen gottgleichen Status vor noch Schlimmerem. Aus Liebe zu Familie und Volk, wie er erklärt.

Diese Filme sind nicht historische Porträts, sind keine Biografien der Macht, die uns kinolehrbuchmässig das Schlimmste in Erinnerung rufen wollen, was Macht anrichtet, wenn sie sich verselbständigt und alles usurpiert. Vordergründig tendiert die Tetralogie eher gegenläufig zur intimen künstlerischen Vision, zum Psychogramm, das vor dem Skurrilen und Grotesken nicht haltmacht, wenn der Mensch in der Unterwäsche dasteht. Sokurows in ausgebleichten Farben beschworene, bildgewaltige Visionen sind als vielstimmige Choreografien des Wahns jede für sich Kunst-Stücke. Sie sind komplexe filmische Tongemälde von jener Suggestivität, die den russischen Filmemacher auszeichnet. Der halbnackt röchelnde Lenin. Das blind Luft und Wort suchende Fischmaul des Tenno, der fassungslos stehen bleibt, wenn sich eine Tür (im amerikanischen Headquarter) nicht mehr für ihn öffnet und er selber die Türfalle in die Hand zu nehmen hat. Dann der permanent kichernde Irrsinn auf dem Führerhorst mit seiner aggressiven Gruppendynamik zwischen Eva und Magda, dem tollpatschigen Bormann und dem bösen kleinen Klumpfuss Goebbels; zwischen ihnen Eva, die sich so dumm und nackt wie clever einmischt. Hirschbiegels umstrittener Spaghetti mampfender Bruno-Ganz-Hitler in Der Untergang scheint dagegen eine Harmlosigkeit an problematischer Nähe zum Tabu: der Unfassbarkeit und Unantastbarkeit des Schreckens.

Wären dann aber Alexander Sokurows Filme nicht gerade noch problematischer in der Art, wie sie die Macht des Bösen ins Menschliche herunterholen? Indem die Entmystifizierung des einmalig Monströsen, obwohl irgendwann unausweichlich, aus historischer Distanz der Relativierung Vorschub leistet? Die Frage ist auch deshalb schwierig zu beantworten, weil die Gegenwärtigkeit unseres historischen Wissens im Film sozusagen mitläuft. Und dieses ist in unserem Kulturkreis bezüglich Hitler natürlich eine ganz andere als im Fall des japanischen Kaisers. Haarscharf droht sich da, in westlicher Wahrnehmung, Mitleid einzuschleichen.

Hier, in Die Sonne, beobachten wir immerhin, wie ein problematisches Abgleiten ins Skurrile mehrfach abgefangen wird: etwa durch die immer beklemmender wirkende Hermetik des kaiserlichen Zeremoniells im Bunker. Dann überwältigt uns Sokurow durch eine kurze Visualisierung des von der Bombe ausgelösten Feuersturms, mit dem sich die meeresbiologischen Phantasmagorien des Kaisers verschmelzen. Die Fische im brodelnden Wasser und der Bombenhagel aus den Flugzeugen in der brodelnden Luft werden ununterscheidbar eins – in einer Bildkraft des Schrecklichen, vergleichbar nur jener von Imamuras Black Rain in Hiroshima. Aber ambivalente Gefühle bleiben, zumal die Satire am allerwenigsten vor einigen US-Soldaten, die den Tenno burschikos verhöhnen, halt macht und diesem dadurch Würde – und unsere Empathie – quasi zurückgibt.

In Moloch wiederum ist alles nur noch bedrohlich und gespenstisch: die Atmosphäre in der dünnen Luft auf dem Kehlstein, wo sich eine nackte Eva Braun auf der Burgzinne produziert und Riefenstahl’schen Körperkult für lüsterne Augen inszeniert. So erwartet sie ihren «Adi». Und als dieser dann da ist, zeigt sich der Wahnsinn von seiner grauslig aufgekratzten Seite: Denn alle sind der Feind von allen, alle sind ständig überwacht, hinter Mauerecken hervor, durch Ferngläser, unüberhörbar ist das kosmische, nicht zu ortende Zirpen von Funkempfängern. Allein die Tonspur des (deutsch gesprochenen!) Films ist auch hier sensationell. Hitler (der phänomenale Leonid Mozgovoy) ist ein kranker Freak, brandgefährlich, wenn er vor der Heimkinoleinwand Beethovens Neunte mit dirigiert und plötzlich seinem Zorn gegen die Filmemacher wüsten Lauf lässt. Eva stimmt reflexartig zu: «Die ganze Bagage ab! Nach Auschwitz!» Hitler: «Wo ist das?» Nein, in solchen Momenten, und es sind deren viele, läuft das Groteske nicht Gefahr, in die Banalität abzustürzen. Im Gegenteil: Der Witz ist nur auf der Höhe des Irrwitzes der Macht, den er denunziert.

In Fausts Person, sagt Alexander Sokurow, sei alles angelegt, was Hitler, Lenin und den Tenno ausgemacht habe. Goethes Dichtung ist für ihn Ausgangspunkt und Schlussstein seiner Tetralogie. Aber er übernimmt sie nicht tel quel. Versfetzen aus dem Stück – ergänzt auch durch fremde Anleihen wie Luthers «Hier stehe ich und kann nicht anders» – grundieren auf der Tonspur einen inneren Monolog Fausts, der dem kruden biedermeierlichen Genrenaturalismus des äusseren Filmdramas spannend Paroli bietet. Einer also will, am Ende seiner Möglichkeiten, seine Seele verkaufen, um über sich hinauszugehen. So lässt er sich mit dem Teufel ein.

Bei Alexander Sokurow ist dieser sehr profan geworden: Maurizius Müller ist hier ein Pfandleiher, bei dem die Leute in Massen anstehen, und als «Mephisto» nimmt er changierend Gnomgestalt an. Fausts Famulus Wagner zitiert die Volksweisheit: Wo das Geld ist, da ist auch der Teufel. Was soll ihm der hungernde Magister und Doktor Faust, der sich nicht mal mehr Tinte zum Schreiben leisten kann, denn verkaufen? Die Seele, nach der er zu Beginn in menschlichen Kadavern vergeblich wühlt? Wo aber die Seele gar nicht mehr zu finden ist, regiert unkontrollierbar das Geld. Wer will, kann diesen Faust als Kapitalismuskritik sehen, indem der Teufel im allgemeinen Wirrwar zur Geldmaschine wird. Dass er dabei, im Film als Wucherer bezeichnet, Züge des verachteten Juden vom Dienst trägt, ist allerdings ein waghalsiges Klischeespiel mit dem Feuer. Man ist etwas unangenehm berührt, auch wenn Maurizius dann einmal sein und seinesgleichen Schicksal mit durchdringender Stimme prophetisch vorausdeklamiert.

Philosophisch jedenfalls kann das Paar Faust / Mephisto nicht mehr funktionieren. Mephisto/Maurizius ist nicht mehr Fausts dunkle Seite, sondern eben ein etwas beliebiger Kumpel. Nicht von ungefähr, dass der berühmte Pakt mit Blut erst im letzten Drittel des Films vollzogen wird – dann nämlich, wenn es um das Mädchen, genauer: um die Nacht mit dem Mädchen geht. Hier kommt der im alten Stummfilmformat und verfremdenden Linseneffekten operierende Film in magischen Close-ups des Paars zum Stillstand. Johannes Zeiler und Isolda Dychauk sind Faust und Gretchen, vereint im Begehren noch am Grabe des von Faust erschlagenen Bruders, und dass dieser Faust dann vor der Schändung doch zurückschreckt, wird seine einzige und einsame Grösse sein. Die Wollust als die Triebfeder des Lebens, sie mutiert bei Alexander Sokurow zu einer grossen und ernsten und reinen Sache. Was bleibt, wenn der alte Faust ihr entsagt?

Mit Maurizius als Führer trollt er sich am Ende als Ritter von der traurigen Gestalt ins Gebirge. Er passiert Geysire, wo der siedend heisse Puls der Erde den Menschen in die Schranken weist, gelangt an den Fluss des Todes und landet in einer Steinwüste, wo er den winselnden Gnomen endlich erschlägt und lebendig begräbt. Wohl nur halbwegs. Dann macht er sich auf, Gretchens Stimme ruft ihn. Doch «weiter, immer weiter», gibt der stürmische Wanderer zurück. Aber da erwartet ihn, zuoberst auf dem Dach der Welt, nur noch ewiges, kaltes Gletschereis. Und die melancholischen Flötentöne geraten zur Reminiszenz ans Leben, die schmerzt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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