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From what is before 01

Mula sa kung ano ang noon / From What Is Before

Die Geschichte, die Lav Diaz erzählt, ist von packender Intensität, festgehalten in eindrucksvollen Bildtableaus in Schwarzweiss, mit meist statischer Kameraeinstellung, zuweilen auch mit ausladenden Schwenks. Eine Meisterleistung der epischen Erzählkunst.

Text: Peter Kremski / 24. Sep. 2014

Der weite Blick auf eine hügelige Graslandschaft, sparsam von Bäumen durchzogen, dazu Gestrüpp. Irgendwann dann die Wahrnehmung einer Bewegung, weit weg, in der Tiefe des Bildes. Eine Figur schält sich aus dem Bildhintergrund heraus, noch ganz klein, wird allmählich grösser, kommt heran, aber lässt sich Zeit. Auf einem Grasweg, den man jetzt erst als solchen erkennt und auch nur, weil sich jemand auf ihm entlangbewegt. Dieser Weg läuft auf die Kamera zu, und irgendwann wird das auch die noch unbestimmte Person tun müssen, die sich auf ihm fortbewegt. Aber so weit sind wir noch lange nicht.

Jetzt treten noch mehr Figuren ins Bild, die der ersten folgen, eine nach der anderen, fernab im Hintergrund. Vielleicht leichter und schneller von uns wahrgenommen als die erste, weil sich unser Blick darauf eingestellt, also geschärft hat. Auch sie noch ganz klein, denn die Kamera bleibt, wo sie ist, unverändert.

Eine Menschenkarawane zu Fuss. Man beginnt zu zählen. Es sind acht Personen, aufgeteilt in zwei Gruppen zu viert. Jede Gruppe scheint etwas zu tragen. Man wartet darauf, dass noch jemand nachfolgt, aber es kommt keiner mehr. Und die Personen entscheiden sich, auch nicht zu kommen. Sie setzen sich unversehens hin, mitten auf den Weg, immer noch weitab von der Kamera.

Wenn irgendwann endlich die Karawane doch noch auf die Kamera zukommt, ist Zeit vergangen. Die Karawane zieht an der Kamera vorbei und aus dem Bild. Es bleibt die Landschaft, sie stand auch am Anfang. Die Menschen erscheinen als Figuren in der Landschaft. Sie treten in sie ein und wieder aus ihr hinaus.

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Eine Einstellung aus Mula sa kung ano ang noon (From What Is Before), dem neuen Film von Lav Diaz. Minutenlang, so, wie man das von dem philippinischen Filmemacher kennt. Eine äusserst geduldige Erzählweise, die dazu führt, dass der Film zu guter Letzt 338 Minuten dauert, was eine disziplinierte Leistung ist. Denn andere Filme von Lav Diaz brauchen länger. Ebolusyon ng isang pamilyang Pilipino (Evolution of a Filipino Family) aus dem Jahre 2004 benötigt 630 Minuten, das sind zehneinhalb Stunden.

Filme, in denen es um Raum und Zeit geht und die dennoch auch eine Geschichte erzählen. Die Geschichte, die Lav Diaz in Mula sa kung ano ang noon erzählt, ist von packender Intensität, festgehalten in eindrucksvollen Bildtableaus in Schwarzweiss, mit meist statischer Kameraeinstellung, zuweilen auch mit ausladenden Schwenks. Eine Meisterleistung der epischen Erzählkunst, die jetzt auf dem Filmfestival in Locarno mit Preisen überhäuft wurde. Der Hauptpreis der offiziellen Festivaljury ging an diesen Film genauso wie der Fipresci-Preis der unabhängigen Kritikerjury, eine seltene Übereinkunft.

Lavrente Diaz, bald 56 Jahre alt, führt laut filmografischen Angaben seit 1998 Filmregie. Doch es ist das erste Mal, dass ein Film von ihm jetzt im Wettbewerb eines A-Festivals gezeigt wurde. Vielleicht ist Mula sa kung ano ang noon auch sein bisher ausgereiftestes Werk. Der Hauptpreis ist die folgerichtige und fällige Anerkennung für einen herausragenden Filmemacher unserer Zeit. Und es ist eine Anerkennung für das philippinische Kino, das auch zum ersten Mal in dieser Weise prämiert wird. Das Team habe geweint vor Glück, sagt eine der in Locarno anwesenden Darstellerinnen.

Das Preisgeld beträgt 90 000 Franken. Gekostet hat der Film geschätzte 46 000 Dollar. Gedreht wurde er digital, weil man sich Film als Material überhaupt nicht leisten konnte. Die Produktionszeit habe neun Monate gedauert. Alle daran Beteiligten gingen an ihre Leistungsgrenzen. Die gesamte Crew bestand aus nur zehn Leuten. Einige der Schauspieler, auch Hauptdarsteller, übernahmen Crew-Aufgaben als Regieassistentin, Production-Designer, Ausstatter, Beleuchter oder Kostümbildnerin. Lav Diaz’ eigene Leistung bei diesem Film ist universal. Er hat den Film geschrieben, inszeniert und produziert, aber auch fotografiert und geschnitten und dazu das Ton-Design kreiert. Mit dem Schnitt wurde schon während der Dreharbeiten begonnen. Die Schnittzeit betrug schliesslich vier Monate.

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Die technische Qualität und Ausdruckskraft des digitalen Bildes (Panasonic GH3) ist ausserordentlich und überzeugt selbst im Rahmen einer filmischen Ästhetik, bei der die epische Weite und Tiefe eines in Szene gesetzten Erzählraums von grundlegender Bedeutung ist. Das konstatiert auch die Kritik, wenn es heisst, Lav Diaz beweise hier «eine unerreichte Meisterschaft im digitalen Medium» (Giovanni Marchini Camia) und «erweitere die Grenzen des Kinos im digitalen -Zeitalter» (Mark Peranson). Lav Diaz reflektiert das selbst im Sinne eines erweiterten Kinobegriffs, in dem die mediale Konkurrenz und Feindschaft aufgehoben ist: «Now there is just cinema. The debate between digital and celluloid is over.»

Inhaltlich bezieht sich Diaz in Mula sa kung ano ang noon zum dritten Mal in einem seiner Filme auf die Marcos-Diktatur als historischen Zeithintergrund und knüpft damit an Batang West Side (2001) und Ebolusyon ng isang pamilyang Pilipino an, weshalb es bereits Anregungen gibt, diese drei Filme als Trilogie zu betrachten. Während Ebolusyon die ganze Zeit der Diktatur (von 1972 bis 1986) umfasst und Batang West Side den Auswirkungen der Diktatur in der Folgezeit nachspürt, widmet sich sein neuer Film den Jahren 1970 bis 1972 und damit dem Vorabend der Diktatur. Dramaturgisch steuert der Film auf die Proklamation des Kriegsrechts zu, mit der die Diktatur ganz offiziell beginnt. Neun Jahre soll es dauern, bis das Kriegsrecht wieder aufgehoben wird.

Lav Diaz bezeichnet diese Zeit als «darkest period» der neueren philippinischen Geschichte. Das schwere Vermächtnis der Marcos-Ära laste noch heute auf den Philippinen. Was er im Film erzählt, ist persönlich gefärbt. Eine Erzählerstimme erklärt am Anfang, dies sei eine Geschichte aus der Erinnerung, Personen und Ereignisse seien real. Diaz geht von eigenen Erinnerungen aus. Er war zur dargestellten Zeit elf bis dreizehn Jahre alt. Die erste Figur, die im Film auftritt, ist ein elfjähriger Junge. Die Erzählerstimme knüpft direkt an ihn an.

Der Film erzählt von den Menschen und vom Leben in einem philippinischen Barrio, einem Dorf in einer abgeschiedenen ländlichen Region, jenseits zivilisatorischer Errungenschaften, das noch an alten malaiischen Bräuchen festhält. Und er erzählt von den destruktiven Auswirkungen des Kriegsrechts, mit dem Soldaten und Milizen in das noch archaisch geprägte Leben eindringen. Der Film erzählt von dem, was zuvor war, und von dem, was verloren gegangen ist. Lav Diaz versteht sich als malaiischer Filmemacher, und sein Film ist eine Suche nach malaiischer Identität. Zum Nationalbegriff des Philippinischen geht er auf Distanz, der stammt noch aus der Zeit der spanischen Kolonisation.

Die Suche nach der malaiischen Identität ist die Grundthematik im filmischen Œuvre von Lav Diaz. Die Ästhetik seiner Filme erklärt sich aus einer antikolonialistischen Haltung. Das betrifft auch eine visuelle Kolonisierung durch Hollywood, gegen die er sich wehrt – mit endlos langen, statischen und häufig in der Totale verharrenden Einstellungen, mit ausufernden filmischen Lauflängen, die sich jeder zeitlichen Normierung widersetzen, und mit seinem Verzicht auf Konvention gewordene Bilder in Farbe.

Nach Vorbildern und Einflüssen befragt, nennt er: die Spinne. Ihr Webnetz sei ein ästhetisches Meisterwerk. Dieser Webtechnik begegnet man auf erzählerischer Ebene auch in seinen Filmen und erst recht in der filigranen Ästhetik von Mula sa kung ano ang noon.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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