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Vic et flo 01

Vic + Flo ont vu un ours

Noch im Dunkel des Kinos ertönt ein einzelner Paukenschlag, dann noch einer, der Beginn von etwas Bedeutendem. Es gilt also aufzupassen. Die ersten Bilder und Töne von Vic + Flo ont vu un ours> erscheinen zwar weniger bedeutungsschwanger als erwartet, aber nicht minder überraschend.

Text: Tereza Fischer / 21. Jan. 2015

Noch im Dunkel des Kinos ertönt ein einzelner Paukenschlag, dann noch einer, der Beginn von etwas Bedeutendem. Es gilt also aufzupassen. Die ersten Bilder und Töne von Vic + Flo ont vu un ours erscheinen zwar weniger bedeutungsschwanger als erwartet, aber nicht minder überraschend. An einem Unort, einer nichtssagenden Bushaltestelle müht sich ein Pfadfinder auf seiner Trompete ab und bringt nur schräge Töne heraus. Für so etwas gibts kein Geld, da muss man schon üben, meint lakonisch Victoria, die gerade in diesem Nirgendwo angekommen ist. Eine kurze, lächerliche Begegnung, so scheint es, und doch wird sie Victoria am Ende des Films einholen. Manchen Dingen im Leben entkommt man nicht, scheinen sie auch noch so unbedeutend und zufällig.

Der grobe Plot des siebten Films des Kanadiers Denis Côté ist schnell erzählt: Die einundsechzigjährige Victoria wurde auf Bewährung entlassen und findet im Haus ihres Onkels im ländlichen Hinterland von Québec eine ruhige Bleibe. Bald stösst ihre Geliebte Florence zu ihr. Sie versuchen ihre Freiheit zu geniessen, aber es will und kann ihnen nicht gelingen – aufgrund innerer Widerstände und äusserer Hindernisse.

Das Geschehen entwickelt sich als eine perfekt getimte Abfolge von kleineren und grösseren Rätseln und von kleinen und grossen Überraschungen. So folgt bereits auf die Titelsequenz ein erstes Minirätsel: eine kurze Kamerafahrt über Baumblätter. Zu hören ist dazu ein irritierendes, hohes Sirren. Die Orientierung scheint erst mal unmöglich. Ein kurzer verunsichernder Moment. In diesem Fall wird uns die Auflösung des Rätsels schon nach wenigen Sekunden, am Ende der Kamerafahrt präsentiert: Ein junger Mann steuert einen Spielzeughelikopter neben einem alten Mann im Rollstuhl. Schon fragt man sich, wer die beiden sind. Auch das erfährt man bald: der gelähmte Onkel und sein freiwilliger Pfleger. Die viel wichtigere Antwort auf die Frage, was Victoria an diesem verlassenen Ort sucht, erfordert schon etwas mehr Geduld. Und warum sie zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt wurde, bleibt gänzlich unbeantwortet.

Vic und Flo, das sind eben nicht zwei kleine Jungs, die sich im Wald verirren und einem bösen Bären begegnen, wie man aufgrund des Titels vielleicht vermuten könnte. Der Bär verheisst zwar immer noch nichts Gutes, aber Victoria und Florence sind gestandene Frauen, ein etwas ungleiches Liebespaar und beide gerade erst eben aus dem Gefängnis entlassen. Während Victoria in der Einöde einen Zufluchtsort und Ruhe findet, langweilt sich die jüngere Flo schnell in einer Gegend, in der ein Pub und eine Gokartbahn die einzigen Attraktionen sind. Die Ausflüge mit einem Golfmobil verlieren schnell an Unterhaltungswert. Für Abwechslung sorgen wenigstens die Besuche des nervenden Bewährungshelfers, sie bringen auch Widerstand, an dem man sich reiben kann.

Doch die neu gewonnene Freiheit erweist sich in der Darstellung als Verlängerung des Gefängnisses, eintönig und einsam. Die Bilder sind in einer farblichen Reduktion ins Bläuliche und Triste getaucht, und die Flashbacks vom Gefängnisleben fügen sich nahtlos ins Hier und Jetzt. Auch Victorias Kleidung, hellblaue Blusen und Jeans, gleichen einer Einheitskleidung, einer Uniform. Schon kurz nach ihrer Ankunft fragt Florence: «Wärst du lieber Wasser oder Wind?», und erhält die Antwort erst, als es keine Rolle mehr spielt, als jede Sehnsucht nach Freiheit ihrer Existenzberechtigung beraubt worden ist.

Heitere, glückliche Momente werden hier stets von Melancholie abgelöst. Ein ständiges, leises Auf und Ab, in dem die beiden gefangen sind. Während sich Vic jedoch an diesem einsamen Ort mit ihrer Geliebten in trauter Einsamkeit verkriechen will, möchte Flo ausbrechen und dem Klammern ihrer Partnerin entkommen. Ihrem Wunsch nach echtem Ausbruch wird aber schon bald von unerwarteter Seite ein herber Rückschlag versetzt, als eine kriminelle Bekannte auftaucht, die Flo ein Bein bricht. Begleitet von unheimlicher Trommelmusik macht diese enigmatische Figur, die eine eifersüchtige Exgeliebte sein könnte, klar, dass sich die Vergangenheit nicht einfach abschütteln lässt.

Vic et flo 02

Glück scheint in dieser Gegend ohnehin seine Wirkung schnell zu verlieren. So wirkt das Hufeisenwerfen, das Vic und Flo zum Zeitvertrieb machen, derart erfolg- und hoffnungslos, dass sich die Kamera nicht mal die Mühe macht, die Reaktionen auf die Misserfolge in den Gesichtern der beiden zu zeigen. Sie verweigert wie so oft auch in dieser Szene Informationen. Wir sehen die Figuren von hinten, ohne auch nur ihre wahrscheinlich gelangweilten Mienen studieren zu können. Mit solchen immer wieder ins Zentrum des Bildes gerückten Rückenfiguren demonstriert Denis Côté eine radikale Abkehr vom Prinzip der Frontalität und einen (nicht übertriebenen) Gestaltungswillen. Das gekonnt inszenierte Bruchstückhafte schafft auch in unscheinbaren Szenen ein leichtes Unbehagen und bewirkt gleichzeitig ein sich verdichtendes Gefühl der Entfremdung.

Côté, ein Pendler zwischen Dokumentar- und Spielfilm, pflegt auch hier einen Wechsel zwischen verschiedenen Genres, der unerwartet wirkt. Was mit einer ironischen Einlage beginnt, entwickelt sich zu einem psychologischen Drama und einem stimmigen Porträt des Lebens im kanadischen Nirgendwo, um gegen Ende die Züge eines Horrorfilms anzunehmen. Der schockierende Einbruch von Gewalt ins ruhige Leben ist einer Naturkatastrophe gleich sinnlos und unfassbar. Aber ganz am Ende versöhnt uns Côté mit einer märchenhaften Geste, die zum Ton des Titels passt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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