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Félix et Meira

Text: Tereza Fischer / 04. Nov. 2015

Gleich und gleich gesellt sich gern. In diesem Fall könnten die beiden einsamen Seelen, die in Félix et Meira zueinanderfinden, von aussen betrachtet nicht unterschiedlicher sein. Die ersten Bilder des Films und davor schon die Klezmerklänge, die die Titel begleiten, führen uns in eine ultraorthodoxe Gesellschaft ein, in die Welt von Meira. Wir tauchen in die Sabbatfeier einer chassidisch-jüdischen Familie ein. Während der Mann andächtig die rituellen Handlungen ausführt und mit den anderen Männern singt, sitzt seine Frau Meira abwesend und im Essen stochernd am Tisch. Die Distanz zwischen dem jungen Ehepaar scheint weit grösser als der Tisch, an dem sie sich gegenübersitzen. Meira fühlt sich in ihrer kleinen Welt, allein zu Hause mit ihrer Babytochter, gefangen. Heimlich hört sie Tanzmusik und stellt sich tot, wenn ihr Mann Shulem sie dabei erwischt. «After laughter come tears», singt Wendy Rene und beschreibt damit nicht nur die Szene, sondern auch den weiteren Verlauf von Meiras Ausbruch aus der Enge der orthodoxen Gemeinschaft.

Meira trifft in Montréals Multikultiquartier Mile End den um einiges älteren Atheisten Félix. Auch Félix scheint nicht in seine (wohlhabende) Familie zu gehören. Am Sterbebett erkennt ihn der Vater nicht mehr und vererbt ihm auch nichts; seit zehn Jahren herrschte Funkstille zwischen Vater und Sohn. Dank seiner Schwester erhält Félix dennoch genug Geld, um nicht arbeiten zu müssen. Er lebt allein und in den Tag hinein. Ein 40-Jähriger, der Kätzchen zeichnet. «Wer von uns ist eigentlich der komischere Vogel?», wird Meira später fragen. Das Zeichnen verbindet die beiden Aussenseiter. Félix und Meira nähern sich einander vorsichtig an und verlieben sich.

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Der kanadische Regisseur Maxime Giroux erzählt in seinem dritten Spielfilm diese Annäherung genüsslich langsam und ganz ohne dramatische Höhepunkte. Was sich zunächst als Befreiungsgeschichte einer in einer patriarchalen Gesellschaft unterdrückten Frau anlässt, entwickelt sich zu einem stillen Porträt zweier einsamen Seelen. Es ist eine Liebe ohne grosse Leidenschaft. Selbst als Shulem das Paar überrascht und den Kontrahenten etwas ungelenk verprügelt, geschieht dies ohne Geschrei. Meira fügt sich leise, um vorzugsweise auf dem stillen Örtchen zu träumen und Fluchtpläne zu schmieden. Dort versteckt sie in einer Damenbindenpackung alles, was ihr lieb und teuer ist.

Das Schweigen wiegt hier schwerer als Worte. Es herrscht Sprachlosigkeit trotz der natürlichen Mehrsprachigkeit der Protagonisten, die zwischen Jiddisch, Englisch und Französisch wechseln. In Félix et Meira verlangen die kleinen Gesten und Handlungen nach Aufmerksamkeit. Gemeinsam mit seiner Kamerafrau Sara Mishara schafft Giroux eine (Bild-)Erzählung, die Lücken und Leerstellen ins Zentrum stellt. Nach und nach fügen sich die lange zurückgehaltenen Informationen zu einem lückenhaften Ganzen, viel erfahren wir trotzdem nicht über die beiden Figuren. Giroux lässt uns Zeit, uns in sie hineinzufühlen. Oder eher Raum, denn es sind weniger elliptische Auslassungen als vielmehr die im Dunkel der Bilder verborgenen Motivationen und Wünsche, die wir imaginativ nachvollziehen sollen. Immer wieder sehen wir Meira oder Félix allein, nachdenklich. Momente der Einsamkeit, der Stille und des Wünschens.

Das visuell attraktive Spiel mit Licht und Schatten trennt die Welten draussen und drinnen, es trennt aber auch die Figuren voneinander. Der sich wiederholende Blick aus dem Fenster führt entweder ins Dunkel oder richtet sich auf das überbelichtete Fensterviereck, in dem auch nichts zu erkennen ist. Es sind Projektionsflächen für die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Einem gemeinsamen Leben? Am Ende sind Félix und Meira mit ihrer kleinen Tochter ins romantisch aufgeladene Venedig gereist. Wenn aber Félix vom Hotel auf den Kanal schaut, schreit ihm Meiras Kind die Ohren voll. Die junge Frau, die im Laufe des Films mit Jeans geliebäugelt hat, nimmt ihre Perücke ab, um sie gleich wieder aufzusetzen. Und so sitzt das Paar in einer Gondel und fährt der ungewissen Zukunft entgegen. Wie in The Graduate bleibt den Protagonisten die Freude ob ihrer gemeinsamen Flucht im Halse stecken.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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