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As mil e uma noites / 1001 Nacht

Das portugiesische Filmschaffen hatte von jeher eine Tendenz zum barocken Exzess, diese Strömung ist nun um ein Opus reicher: As mil e uma noites ist masslos in den Dimensionen, erfinderisch in Ton und Sprache und doch immer nahe am Alltäglichen.

Text: Patrick Straumann / 04. Nov. 2015

Das portugiesische Filmschaffen hatte von jeher eine Tendenz zum barocken Exzess, diese Strömung ist nun um ein Opus reicher: As mil e uma noites ist masslos in den Dimensionen, erfinderisch in Ton und Sprache und doch immer nahe am Alltäglichen. Aufgrund seiner radikalen Formgestaltung hatte sich Miguel Gomes bereits mit seinen ersten zwei Filmen eine solide Reputation eingehandelt – Aquele querido mês de agosto (2008) stimmt sich auf den losen Rhythmus der langen und warmen Sommernächte der portugiesischen Provinz ein; [art:97] (2012) erzielt mit seinen schwarzweissen Aufnahmen im 4:3-Format eine verfremdende Wirkung, die seiner tropischen Rhapsodie einen surrealen Charme verleiht. Bei As mil e uma noites scheint das Tempo erneut von der Aussenwelt vorgegeben: Der Blickwinkel ist nicht der Perspektive seines Autors unterworfen, die 381 Minuten lange Produktion lebt vom Wildwuchs zahlloser Figuren und von Situationen, die kaleidoskopisch gebrochen von der Befindlichkeit eines in der Tiefdruckzone der globalen Ökonomie gefangenen Landes berichten.

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Was allerdings nicht heissen will, dass die Abfolge keiner inneren Bewegung gehorcht. Die drei Teile (untertitelt als Der Ruhelose  /  o inquieto, Der Verzweifelte  / o desolado und Der Entzückte  / o encantado) besitzen die symmetrische Form eines Triptychons, erinnern in ihrem Fluss jedoch eher an eine chinesische Tuschlandschaft: Porträts, Genreszenen und Tierbilder sind hierarchie- und chronologielos aneinandergereiht; die Erzähllinien, von einer zeitlosen (und zeitlos schönen) Scheherazade ausgerollt, verweben sich zu einem kontrastreichen Bild des heutigen Portugal und verfestigen sich zu einer Bestandesaufnahme, die sich nicht allein als «soziale Dokumentation» versteht, sondern auch als Kunstobjekt, das der wirtschaftlichen Verengung des Lebensraums die offenen Perspektiven der Utopie gegenüberstellt.

Lassen sich die einzelnen Sequenzen resümieren, ohne deren fragile Substanz zu gefährden? Der Ruhelose zeigt eine Schiffswerft in Viana do Castelo, die angesichts der anstehenden Massenentlassungen in einen Lähmungszustand verfällt; das folgende Kapitel stellt einen Hahn vor, der in Resende wegen seines frühmorgendlichen Krähens juristische Scherereien bekommt, aber dennoch – fast – zum Bürgermeister gewählt wird. Ein weiteres Segment berichtet von einem Jugendlichen, der aus Liebeskummer einen Waldbrand ausgelöst hatte (hier wird die Zuneigung der Geliebten zu einem Feuerwehrmann mittels eingeblendeter SMS-Fragmente nacherzählt). Man sieht Kamele vorbeiziehen, begegnet einem afrikanischen Hexer und Vertretern der internationalen Geldgeber, die sich wie molièresche Ärzte über den verschuldeten Staatshaushalt beugen. Am Ende werden wir mit einer Reihe empfindsam gefilmter Porträts von Arbeitslosen, die sich ihre Nahrung aus den Mülltonnen zusammensuchen, erneut mit dem ökonomischen Marasmus konfrontiert. (Im Schlussbild trifft sich die auf dem Altar der «Restrukturierungen» geopferte Bevölkerung zu einem Bad im Meer: Der Atlantik, in Portugal eine von jeher positiv besetzte Grenze, stellt den tristen Zukunftsaussichten immerhin einen leisen Hoffnungsschimmer entgegen.)

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Im zweiten Teil (Der Verzweifelte) werden sich die Brüche, die sich durch die Biografien und die Gemeinschaften ziehen, verschärfen. Simão «Sem Tripas» ist ein Mörder und Outlaw, dessen Flucht westernartige Züge annimmt; als ihn die Polizei nach der Verhaftung auf einem Ochsenkarren abführt, wird ihn die Bevölkerung als gefallenen Helden feiern. Die Richterin, die auf der dörflichen Agora einen Betrugsfall zu schlichten hat, muss beim (nächtlichen) Prozess feststellen, dass die Kläger, Angeklagten und Zeugen im gleichen Mass sowohl Täter als auch Opfer sind. Im letzten Kapitel dieses Teils wird die soziale Implosion in der Architektur einer Sozialsiedlung einen adäquaten Ausdruck finden: Die Bewohner – ein krankes Rentnerpaar, die Concierge aus Moçambique, zwei schüchterne Junkies – sind horizontal wie vertikal voneinander getrennt; bewegliches und zugleich labiles Zentrum in dieser Sequenz ist der weisse Pudel Dixie, der nicht nur regelmässig den Besitzer wechselt, sondern auch dem der Sequenz hinterlegten «Say Yes Say No» von Lionel Richie unvermittelt eine abgründig traurige Klangfarbe verleiht.

Diese Abstecher ins Animalische – vielleicht sind sie dem thailändischen Kameramann Sayombhu Mukdeeprom zu verdanken, der üblicherweise die Filme von Weerasethakul ausleuchtet – finden in den dokumentarischen Aufnahmen von Der Entzückte ihre ideale Balance. Den Vogelzüchtern eines Aussenviertels von Lissabon, die ihre Singvögel zum Lernen von neuen Melodien anspornen und sich unter der zerschlissenen Volière zum jährlichen Gesangswettbewerb treffen, sind historische Aufnahmen aus den siebziger Jahren gegenübergestellt, als die nach den Kolonialkriegen überbevölkerten Vororte der Hauptstadt vornehmlich noch aus Armensiedlungen bestanden. Die Veränderungen, die in der Kollision der zeitgenössischen Bilder mit dem grobkörnigen Archivmaterial sichtbar werden – die amputierten, heute von den Rollbahnen des Flughafens durchschnittenen Lebensräume, die Risse im gesellschaftlichen Gefüge, die sich selbst durch die Familien ziehen –, scheinen die im EU-Zeitalter realisierten Quantensprünge der Nation zu relativieren: Was befreiend wirkt, ist die sinnlich empfundene Flucht aus dem städtischen Staub in die sattgrünen Wiesen, wo sich die wilden Vögel (und manchmal auch einer der benachbarten Bauern) in den Netzen verfangen.

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Vermutlich verweisen die gezwitscherten Melodien, die sich bei allen Variationen stets als eine Folge von Einleitung, Durchführung und Finale beschreiben lassen, untergründig auch auf die trianguläre Architektur von As mil e uma noites. (Stellt man Gomes’ Unternehmen in die Tradition von Manoel de Oliveiras historischen Introspektionen, könnte man im Gezirpe selbst ein fernes Echo der prophetischen Rede von Camões’ «würdigem Greis» hören, der den «Herrscherruhm» der Mächtigen in den «Lusiaden» mit dreifachem Kopfschütteln als «nichtiges Verlangen» und «trugvolle Luft» gegeisselt hatte.) Der Film versteht sich jedenfalls nicht nur als künstlerischer acte de résistance gegen die behördlich orchestrierte (oder zumindest mitgetragene) Verarmung der Bevölkerung, er stellt dieser auch ein orientalisches «Paradies» gegenüber, das hier in den etwas gebastelten, aber durchaus hedonistisch gezeichneten Strandszenen seinen leuchtenden Ausdruck findet.

Allerdings ist es auch dieser Hang zur Arte povera, der Gomes seine innovativsten Momente ermöglicht. As mil e uma noites ist weniger gesuchte Nähe zum Volk, wie sie sich etwa Pasolini noch wünschen konnte, als ein Versuch, zu jenem die richtige Distanz zu gewinnen. Dies bedingt einen freien Formwillen, stete Stimmungswechsel, das unvorhersehbare Verfliessen der grotesken, absurden und tragischen Momente. Der Erzählton ist wechselnd von weiblichen Stimmen und einer männlichen getragen, die Kamera kann Objekten Leben einhauchen, dem Alltäglichen das Magische gegenüberstellen. Es ist diese Elastizität, das Oszillieren zwischen politischem Befund und poetischer Fabulierlust, die As mil e uma noites charakterisiert und dem Film sein singuläres Profil verleiht. Wie kann man ein derart hybrides Unterfangen qualifizieren – ist es eine «Ästhetik des Widerstands»? Ist es Widerstand als Ästhetik? Der Regisseur selbst hatte seinen Film als «Star Wars der Armen» bezeichnet. Warum nicht? Ein Sequel kann man sich hierzu jedoch nur schwer vorstellen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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