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Als wir traeumten 01

Als wir träumten

Mit einem symbolträchtigen Einstieg beginnt Andreas Dresens Verfilmung von Clemens Meyers 2006 erschienenem, erkennbar autobiografisch gefärbtem Debütroman über Jugendliche im tristen Randmilieu einer ostdeutschen Grossstadt, die in den frühen Jahren der Nachwendezeit den Halt und die Orientierung verloren haben. Erzählt wird die Geschichte einer Freundesclique in den Jahren 1989 bis 1995.

Text: Peter Kremski / 11. Mär. 2015

Das einsame Licht eines Feuerzeugs bewegt sich durch völlige Dunkelheit. Viel sichtbar machen kann es nicht. Und doch wird irgendwann deutlich, dass man sich in einem ehemaligen Kino befindet, das für immer ausgedient hat. Ein Vorstadtkino in Leipzig-Ost, das sich einmal stolz Palast-Kino nannte.

Winnetou-Filme waren dort noch zu sehen in den achtziger Jahren als West-Import mit zwanzigjähriger Verspätung. Mit der sogenannten Wende verwandelte sich der Palast wohl kurzzeitig in ein Pornokino, dann kam das endgültige Aus. Was für Filme dort in früheren Zeiten zu sehen gewesen sein mögen, darf man sich denken. Indianerfilme mit Gojko Mitic waren sicher darunter, aber auch Filme von Konrad Wolf und Wolfgang Kohlhaase werden dort gelaufen sein und von anderen DEFA-Regisseuren und Autoren, die in Vergessenheit geraten sind. So gesehen, bewegen wir uns durch die Ruinen einer versunkenen Kultur.

Mit diesem symbolträchtigen Einstieg beginnt Andreas Dresens Verfilmung von Clemens Meyers 2006 erschienenem, erkennbar autobiografisch gefärbtem Debütroman über Jugendliche im tristen Randmilieu einer ostdeutschen Grossstadt, die in den frühen Jahren der Nachwendezeit den Halt und die Orientierung verloren haben. Erzählt wird die Geschichte einer Freundesclique in den Jahren 1989 bis 1995. Fünf Jungen, im Jahr der Wende noch junge Pioniere im Alter von zwölf bis dreizehn Jahre, je nach Charakter angepasst oder rebellisch, schlittern, als das System zusammenbricht und alle Grenzen fallen, mit exzessivem Tempo in eine scheinbar unbegrenzte Freiheit. Der Sturz in den Abgrund kann nicht brutaler sein. Am Ende steht die Ernüchterung, der Traum ist aus, die Clique gibt es nicht mehr. Da sind sie zwischen achtzehn und neunzehn Jahre alt.

Die Anfangsszene des Films markiert schon den Endpunkt, auf den die Geschichte zusteuert. Dani, aus dessen Perspektive erzählt wird, ist auf der verzweifelten Suche nach seinem besten Freund Mark und findet ihn im verwahrlosten Nirgendwo des ehemaligen Palast-Kinos, wo beide in jüngeren Jahren mit Winnetou geritten sind und gelitten haben. Jetzt ist Mark drogensüchtig und am Ende. Denn mit der Wende kamen die Drogen als neuer West-Import. Alles bis dahin Verbotene wurde unbesonnen zum höchsten Gut. Der live erlebte wilde Westen wurde so zum selbstzerstörerischen Teufelsritt.

Hier setzen die Erinnerungen des Erzählers Dani ein. Der Film blendet hier auf wunderbare Weise zurück, indem wie durch Magie noch einmal Projektorlicht das finster verödete Kino erleuchtet. Dann ist man als Zuschauer dabei, wie im Jahr 1989 alle Schüler eine etwas befremdlich-groteske und durchweg provinzielle, aber mit Humor absolvierte Verhaltensübung im Falle eines Krieges exerzieren. Die Szenen vor der Wende strahlen – auch farblich – noch eine Wärme aus, die in den Nachwendejahren verloren geht. Eine noch heile Welt, eine Zeit der Unschuld, eine natürlich fragwürdige Ordnung, die aber Geborgenheit gibt. Das Repressive des Systems, das sich auch im Schulalltag niederschlägt, kommt eher gemütlich daher.

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Doch mit der Wende fallen auch «die Schutzräume oder Geländer der alten Ideologie weg» (Andreas Dresen). Im äussersten Gegensatz dazu deshalb die wilden Jahre nach der Wende. Die erste Szene danach – ein Zeitsprung von vier Jahren – zeigt die Clique beim Ladendiebstahl, tatkräftig unterstützt von Katja, früher einmal Gruppenratsvorsitzende der Pioniere und damit Vorzeigeschülerin mit bester Aussicht auf eine sozialistische Karriere. Dann rasende Autofahrten durch die Nacht mit Bierdosenzecherei zu lautstarker Technomusik – in leitmotivischer Wiederkehr als emblematischer Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. Leitmotivisch auch das Aufknacken oder reihenweise Zerschlagen von Autos (Wertsymbole im Westen wie im Osten) – mit Katja, die jetzt Estrellita (Sternchen) genannt wird, tanzend auf dem Autodach. Und immer wieder das Zusammenprallen mit Skinheads, die inzwischen das Viertel dominieren, und das Flüchten vor ihnen als im wahrsten Sinne des Wortes «running gag».

So, wie die Technomusik den Lebensrhythmus bestimmt, gibt sie in solchen Szenen auch dem Film den Rhythmus vor. Mit schnellem Schnitt und hohem Erzähltempo gelingt es Dresen, die anarchische Energie der Zeit in den chaotischen Aktionen seiner Antihelden widerzuspiegeln. Das Halbdokumentarische seines Inszenierungsstils (der Umgang mit der Handkamera und die «Lichtlosigkeit» vieler Szenen) sowie sein menschliches Interesse an den Randexistenzen der Gesellschaft und seine Empathie mit den am Leben Gescheiterten schlagen einen Bogen zurück bis zu den Nachtgestalten seiner frühen Kinoarbeiten.

Aggression und Gewalt sind neben unbändiger Lebenslust die energetischen Faktoren, welche die Handlung vorantreiben. Dresen und Kohlhaase üben in der Darstellung der Gewaltausbrüche keine Zurückhaltung. Aber die wesentlich drastischere, durchaus auch abstossende Erzählweise des Romans ist nicht ihre Sache. Kohlhaase und Dresen, die zuvor schon die grossartigen Komödien Sommer vorm Balkon (2004) und Whisky mit Wodka (2008) gemeinsam realisiert haben, führen noch die DEFA-Tradition (im besten Sinne) fort – mit ihrem genauen Blick für die Poesie des Alltags und die Menschen sowie mit ihrer sozialen Anteilnahme. Das erkennt auch Clemens Meyer an, wenn er über Andreas Dresen sagt, er sei «der Letzte, der sich noch in dieser Tradition sieht».

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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