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Leviathan 01

Leviathan / Leviafan

Für Leviathan gilt wie für den vorangegangenen Elena (2011), dass Andrei Swiaginzew mehr als nur ein Meister des Atmosphärischen ist. Nach den – möglicherweise nur vermeintlich – «zeitlosen» Ergründungen der beiden ersten Filme hat er zu Formen der Analyse des heutigen Russland gefunden, die kinematografisch nicht ihresgleichen haben dürften.

Text: Christoph Egger / 11. Mär. 2015

Interessant an Thomas Hobbes’ Konzeption des Staats als Leviathan (und damit des Leviathans als Staat) ist ja, dass dem biblischen Ungeheuer dadurch eine zwar furchteinflössende, aber eben doch positive Rolle aufgenötigt wird. Während das Aramäische mit dem Begriff das Krokodil verbunden haben dürfte (und entsprechend mit dem Behemoth das Flusspferd), haben die Bibelübersetzungen zunehmend das Bild des Wals vermittelt – «Leuiathan nennet er die grossen Walfisch im meer», heisst es bei Luther –, selbstverständlich des Wals als eines grossen Fischs. Als gewaltigstes aller Lebewesen besingt ihn Miltons «Paradise Lost»: einem Vorgebirge gleich über die Tiefe hingelagert schläft oder schwimmt er, scheint ein Land in Bewegung, durch seine Kiemen ein Meer einziehend und durch seinen Rumpf es ausblasend – «Hugest of living Creatures, on the Deep / Stretcht like a Promontorie sleeps or swimmes, / And seems a moving Land, and at his Gilles / Draws in, and at his Trunck spouts out a Sea».

In der Rezeption von Hobbes’ 1651 erschienener Theorie des Staats hat – wohl nicht zuletzt dem furchterregenden Bild des Leviathans geschuldet – dessen negative Wahrnehmung dominiert. Wenn der russische Regisseur Andrei Swiaginzew seinen jüngsten Film Leviathan betitelt, so steht dahinter fraglos die Auffassung einer monströsen Staatsgewalt. Dabei darf offenbleiben, ob hier nun systemische oder endemische Gewalt gezeigt werde, ob der Missbrauch – in Umkehrung des Hobbes’schen Postulats, dass Aufgabe des Staats eben sei, den Menschen vor dem Menschen zu schützen – allen staatlichen Systemen inhärent sei oder nur gerade diesem, auf dessen Gebiet der Film entstanden ist (bei einem Budget von sieben Millionen Dollar immerhin zu einem Drittel mit staatlichen Fördergeldern): dem russischen. Repräsentiert durch Politik, Polizei und nicht zuletzt Justiz wird das Bild einer Staatsgewalt entworfen, die dem Rechtsempfinden nicht nur des westlichen Betrachters Hohn spricht, sondern genauso demjenigen Kolyas, des bedrohten, verhöhnten, erpressten und schliesslich unter fingierter Mordanklage für Jahre ins Gefängnis versenkten Protagonisten.

Überraschender als diese altbekannte unheilige Allianz ist die Funktion, die hier die Kirche wahrnimmt. Bemerkenswert der Machtanspruch, mit dem sie auftritt, die Selbstsicherheit ihres obersten Repräsentanten. Wer hier das Sagen hat, führt der Kirchenobere, der den skrupellos-korrupten Bürgermeister bald in scheinbar unverbindlichen Floskeln berät, bald in scharfem Ton abkanzelt, ebenso vor Augen wie der verendete Leviathan in Form eines (sichtlich künstlich gefertigten und aufwendig montierten) Skeletts eines gestrandeten Grosswals. In Worte fasst die Demontage des Staats und die Inthronisation der neuen Macht ein demütiger kleiner Pope. Er tut es, indem er Kolya die berühmte Bibelstelle aus dem Buch Hiob, Kapitel 40, Vers 25f. zitiert, wo Gott fragt (und selbstverständlich impliziert, dass nur er dergleichen könne – was wiederum in jedem bessern Walfängerroman trotzigen Widerspruch auslöst): «Ziehst du den Leviathan mit der Angel herbei, und hältst du mit dem Seil seine Zunge nieder? Kannst du einen Binsenstrick durch seine Nase ziehen und mit einem Dorn seine Kinnlade durchbohren?» Gott und damit die Kirche hat den Leviathan, mithin den Staat, so gründlich an der Angel, dass der gerade noch fähig scheint, ihren Wünschen zu willfahren. Und so wird denn ihr neues Gotteshaus in allem Prunk an der Stelle stehen, wo sich einst Kolyas wunderschön gelegenes, nun brutal von einem Bagger wie ein urplötzlich materialisierter Leviathan – oder vielleicht doch eher ein T. rex – demoliertes und dem Erdboden gleichgemachtes Elternhaus befand (während sich die Dorfjugend in den Ruinen der alten Kirche mit ihren Fresken vergnügt).

Leviathan 02

Das Walgerippe, das allerdings nur wenige Male ins Bild kommt, ist das einzige offen symbolische (und durch seine Künstlichkeit etwas aufgesetzt wirkende) Element im Film – ein Novum beim 1964 in Nowosibirsk geborenen Regisseur, der sich zumal in seinem berückenden Erstling, Die Rückkehr (Woswraschtschenije, 2003), bereits als Meister in der Kunst erwies, die Dinge so als Zeichen zu setzen, dass sie stets in Relation zu den Handlungen der Figuren standen und entsprechend ein untergründiges System an Verweisen schufen. Allenfalls von symbolischem Gehalt ist der einmal kurz im Fernseher zu sehende Schriftzug Pussy Riot – geschrieben mit dem Blut zweier ermordeter Frauen, wie Swiaginzew sagt, der den Film aber offensichtlich nicht weiter in Zusammenhang mit den Vorgängen um die Punkband bringen will. Das symbolträchtige Gerippe liegt am Strand von Teriberka, an der Küste der wilden Barentsee, zwischen lauter Fischerbootskeletten (man sieht sie auch bei einem Onlinebesuch des kleinen Orts östlich von Murmansk auf der Halbinsel Kola, während die städtische Szenerie aus dem südlich von Murmansk gelegenen Kirowsk stammt). Die Wahl der Drehplätze erfolgte, wie Swiaginzew dazu sagt, aufgrund ihrer erhabenen Schönheit, des Gefühls wegen, «am Rand der Welt» zu sein. Auch wenn es unglaublich klinge, im Drehbuch, das er zusammen mit Oleg Negin schrieb, habe es weder einen Strand noch das Meer noch ein Skelett gegeben. Erst nachdem sie Dutzende kleinere Städte im weiteren Umfeld Moskaus abgeklappert hätten, seien sie hier oben fündig geworden.

Das Hiob-Zitat legt den Gedanken nahe, in Kolya einen neuen Hiob zu sehen. Doch wenn er voller Zorn den kleinen Priester fragt, wo er denn sei, sein Gott, dann aus Verzweiflung, weil er eben die Leiche Lilyas, seiner Frau, an der Flussmündung unten gefunden hat. Ist sie ertrunken, wurde sie angespült, hat sie sich – wie wir wohl annehmen dürfen – das Leben genommen? Jedenfalls ist Kolya kein Dulder, der ein göttliches – und gar ein staatliches – Verdikt hinnähme. Entschlossen kämpft er für sein Recht, und obwohl er der Gegenseite jede Schandtat zutraut, realisiert er zu spät, dass es hier, wo nicht um Leben und Tod, so doch um Existenz oder Nichtexistenz geht. Mit seinem Freund Dmitri, einem smarten Anwalt aus Moskau, hofft er, die plumpen Winkelzüge des brutalen Bürgermeisters kontern zu können. Je mehr Erfolg die beiden zunächst haben, desto gefährlicher wird ihre Lage. Dmitri lässt sich zwar auf eine kurze Affäre mit Lilya ein, was Kolya umgehend sanktionieren wird, doch die verstohlene Rückkehr im Morgengrauen nach Moskau, die eher einer Flucht gleicht, ist beflügelt durch die Schlägerbande des Bürgermeisters.

Dieser Wadim Tschelewiat ist neben Lilya – die ähnlich wie Maria Bonnevies geheimnisvolle Vera in Die Verbannung (2007) in ihr Mysterium eingesponnen bleibt – zweifellos die faszinierendste Figur. Extrem vulgär, selbst in den deutschen Untertiteln, taumelt er schon bei seinem ersten Auftritt besoffen aus dem Auto, bleibt aber, obwohl hilflos gegenüber der Argumentation des Anwalts, von lauernder Gefährlichkeit. Für den erst für diesen Februar angesetzten Kinostart in Russland mussten wegen eines neuen Gesetzes gegen Obszönität zahlreiche Dialogstellen unkenntlich gemacht werden. Wohl zu Recht erachtet Swiaginzew die Eingriffe nicht als Zensur; die beanstandeten Passagen konnten einfach durch Geräusche überdeckt werden. Für den nichtrussischen Betrachter wohl noch befremdlicher als die Vulgaritäten muten die permanenten Saufereien an. Den Eindruck, dass da kein Leitungswasser aus den Flaschen rinnt, bestätigt der Regisseur in Bezug auf den Umgang mit Alkohol und die Darstellung von Trunkenheit. So hätten sie sich alle darauf geeinigt, um ein realistisches betrunkenes Verhalten darzustellen, sich während der Aufnahmen tatsächlich zu betrinken. Der Einzige, der bei diesem – nebenbei gesagt doch eher befremdlichen – Verständnis von Realismus nicht habe mitmachen wollen, sei der Darsteller des Bürgermeisters gewesen. Der Zuschauer erhebt gewissermassen das Glas auf Roman Madjanow.