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45 Years

Nach der Kurzgeschichte «In Another Country» des englischen Autors David Constantine schrieb und inszenierte Andrew Haig ein leises, intimes Drama, das die Beschränkungen der literarischen Vorlage zu seinem Vorteil nutzt. Ein Kammerspiel, mit seinen zeitlichen und örtlichen Auflagen, funktioniert nur mit den richtigen Schauspielern. Hier sind es Charlotte Rampling und Tom Courtenay, die beiden grossen Darsteller

Text: Michael Ranze / 23. Sep. 2015

45 Jahre sind die Mercers, Kate und Geoff, miteinander verheiratet, mehr als ein halbes Leben. Jetzt soll gross gefeiert werden, endlich, zumal der 40. Hochzeitstag ausfallen musste, weil Geoff damals am Herzen operiert wurde. So erklärt sich die unrunde Zahl – sie ist nicht mehr silbern und noch nicht golden, irgendwo mittendrin, im Schwebezustand: so wie die beiden Menschen, um die es geht. Kate bereitet alles für das grosse Wochenende vor, umsichtig und fürsorglich. Sie ist – so viel kann man den ersten Bildern entnehmen – eine zufriedene Frau, die den Lebensabend mit ihrem Mann geniesst. Doch auf das Folgende ist sie nicht vorbereitet, ihr Mann noch weniger. Vor 50 Jahren verunglückte Geoffs damalige Freundin Katja bei einer Wanderung in den Alpen tödlich. Erst jetzt, so steht es in einem Brief aus der Schweiz, wurde ihr Leichnam gefunden, eingefroren im Eis, festgehalten in der Zeit. Geoff ist erschüttert. Wie wäre sein Leben wohl verlaufen, wäre dieses Unglück nicht geschehen? Hätte er jemals Kate kennengelernt? Ist sie nur zweite Wahl? Kate hingegen ist verunsichert – sie hat über ihre Vorgängerin bislang kaum etwas gewusst. Nun sieht sie, wie ihr Mann zu grübeln beginnt, sich vor ihr verschliesst, vielleicht verpassten Chancen nachtrauert, im schlimmsten Fall sogar sein gesamtes Leben hinterfragt: Was wäre gewesen, wenn …? Je mehr er abwiegelt, umso misstrauischer und eifersüchtiger wird sie. Die Frau aus der Vergangenheit macht ihr Angst. Darum flüchtet sich Kate in Pragmatismus, wählt die Musik für die Feier aus, legt das Menü fest, koordiniert den Ablauf. Doch das in langen Jahrzehnten eingeübte Zusammenleben zwischen den Rentnern ist plötzlich, um eine kleine Spur nur, aus dem Takt geraten. Ob beim gemeinsamen Frühstück oder beim Bummel in der nahe gelegenen kleinen Stadt – Kate fühlt sich ausgeschlossen, fast so, als ob ihr dieses Leben schon nicht mehr gehören würde.

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Nach der Kurzgeschichte «In Another Country» des englischen Autors David Constantine schrieb und inszenierte Andrew Haig, zuletzt mit Weekend hervorgetreten, ein leises, intimes Drama, das die Beschränkungen der literarischen Vorlage zu seinem Vorteil nutzt. Die Handlung konzentriert sich auf wenige Tage und spielt zumeist im abgelegenen Landhaus der Mercers, das zwar Schutz und Gemütlichkeit verheisst. Doch man kann sich hier, zwischen Küche und Schlafzimmer, nur schwer aus dem Weg gehen. Fremde, unerwartete Gefühle brechen sich Bahn und lösen eine Abwehr aus, die schnell einer Lösung bedarf, besonders angesichts des so symbolträchtigen Hochzeitstags. Dem Zuschauer teilt sich die Erschütterung, die Geoff und Kate durchleiden, unmittelbar mit. Wie würde man selbst mit dieser Situation umgehen? Entzöge sie einem den Boden unter den Füssen, weil das Leben auch ein anderes, vielleicht besseres hätte sein können? Oder ist dieses Bedauern unberechtigt, weil man über anders verlaufende Biografien nicht sicher sein kann, weil das Leben nun einmal so ist, wie wir es führen – mit all seinen Schicksalsschlägen, Fehlentscheidungen, Zufällen und verpassten Chancen? Fragen, die die grosse emotionale Wucht des Drehbuchs ausmachen: Eine lange, glückliche Ehe wird plötzlich infrage gestellt, zwei Menschen müssen sich noch einmal rückversichern, was sie füreinander empfinden. Und die erneute Annäherung zwischen Mann und Frau macht auch schon die Qualität des Films aus.

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Ein Kammerspiel, mit seinen zeitlichen und örtlichen Auflagen, funktioniert nur mit den richtigen Schauspielern. Hier sind es Charlotte Rampling (70) und Tom Courtenay (78), die beiden grossen Darsteller, die – jeder für sich – seit den sechziger Jahren eine gewichtige, vielfältige Filmografie mit sich führen. Unvergessen Ramplings berückende Schönheit in Viscontis La caduta degli dei von 1968, unvergessen Courtenays trotziger Protest in Tony Richardsons The Loneliness of the Long Distance Runner von 1962. Jetzt, in 45 Years, ist die Kamera von Rob Crowley ganz nah bei ihnen, zeigt ihre gealterten Gesichter, registriert behutsam jede Geste, jede Mimik, jeden Blick, jede Träne, jedes Gefühl: die Verstörung, die Unsicherheit, die Eifersucht bei Kate, den Schrecken, das Bedauern, die Erstarrung bei Geoff. Dafür wurden Rampling und Courtenay bei der diesjährigen Berlinale gemeinsam mit dem Silbernen Bären für die besten Schauspieler ausgezeichnet.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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