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Serpiente 03

El abrazo de la serpiente

Wenn der kolumbianische Regisseur und Drehbuchautor Ciro Guerra den deutschen Anthropologen Theodor Koch-Grünberg und den US-amerikanischen Botaniker Richard Evans Schultes in einem Spielfilm zusammenbringt, begibt er sich auf ideologisch vermintes Terrain. Rein historisch betrachtet, liesse sich dem Film eine allzu naiv verklärende Haltung vorwerfen. Guerras märchenhafte Allegorie hingegen entzieht sich diesem Vorwurf jedoch weitgehend.

Text: Stefan Volk / 17. Jan. 2016

Zwei weisse Forscher verlieren sich im Amazonasgebiet. Der deutsche Anthropologe Theodor Koch-Grünberg unternimmt ab 1898 jahrelange Expeditionen durch den Urwald im Norden Brasiliens und Süden Venezuelas. Auf einer davon stirbt er 1924 an Malaria. Siebzehn Jahre später, 1941, macht sich der US-amerikanische Botaniker Richard Evans Schultes auf den Weg in den Regenwald. Im Auftrag der Harvard-Universität sucht er Pflanzen mit potenziell medizinischen Wirkstoffen. Das Ganze soll nicht länger als ein paar Wochen dauern. Schultes kehrt erst vierzehn Jahre später in seine Heimat zurück. Mit im Gepäck die wegen ihrer halluzinogenen Wirkung in der Hippieszene bald legendären «Magic Mushrooms». Im Auftrag der US-Regierung hat er zuvor jedoch auch nach Rohstoffen zur Gummiproduktion gefahndet.

Wenn der kolumbianische Regisseur und Drehbuchautor Ciro Guerra (Los viajes del viento) diese beiden Forschungsreisenden nun in einem Spielfilm zusammenbringt, begibt er sich auf ideologisch vermintes Terrain. Hier die ethnozentrische Begutachtung «exotischer» Naturvölker. Dort der reflexartige Vorwurf kolonialistischer Unterdrückung. Guerras lyrisch-surreale Filmerzählung aber schlängelt sich mit traumwandlerischer Geschmeidigkeit zwischen derlei Untiefen hindurch. Obwohl El abrazo de la serpiente von den Biografien und Tagebüchern Koch-Grünbergs und Schultes’ inspiriert wurde, wie im Vorspann zu lesen ist, emanzipiert sich der Film offenkundig von den darin überlieferten Fakten. Das (fast) durchgängige Schwarzweiss, für das sich Guerra allen natürlichen Farbverlockungen zum Trotz entschied, verleiht dem Streifen letztlich weniger einen historischen als einen poetischen Anstrich.

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Die beiden weissen Männer begegnen auf ihren Expeditionen im Abstand von mehreren Jahrzehnten demselben Schamanen. Karamakate ist der einzige Überlebende seines Stamms. In eremitischer Abgeschiedenheit lebt er in einer Hütte mitten im Dschungel. Für Karamakate sind die Forscher im Grund ein und dieselbe Person. Im jungen Schultes, der sich selbst einen «Mann der Wissenschaft» nennt, erkennt er eine Art Wiedergänger des alten Koch-Grunberg, wie der Deutsche im Film heisst. Ein Alter Ego «in der Zeit ohne Zeit». So bezeichnet der Schamane jene metaphysische Dimension, in die, so scheint es, auch Guerras Film immer tiefer eintaucht. Beide Männer, Koch-Grunberg und Schultes, suchen nach der gleichen geheimnisumwitterten Wunderpflanze: Die Yakruna, so heisst es, wächst auf dem Kautschukbaum und erhöht dessen Reinheit. Ausserdem soll sie eine einzigartige psychedelische Kraft besitzen. Für den todkranken Grunberg ist sie die letzte Hoffnung auf Heilung. Schultes will mit ihrer Hilfe angeblich das Träumen lernen. Tatsächlich, stellt sich später heraus, ist er nur hinter dem Kautschuk her.

Für den jungen, stolzen Karamakate wäre das ein Grund mehr gewesen, den weissen Eindringling zu hassen, ihn zu verachten, wie er auch all die Ureinwohner verabscheut, die sich von den Weissen zivilisieren, missionieren oder auch nur ausbeuten lassen.

Als der junge Karamakate im Wald auf Spuren von Kautschukhändlern trifft, kippt er wutentbrannt deren Gefässe um. Der zähe Kautschuk versickert im Boden. Kurz darauf aber kehrt der Mann zurück, der den Kautschuk gesammelt hat: ein alter, kränklicher Einheimischer, der beim Anblick seiner verschütteten Ernte völlig die Fassung verliert. Aus Angst vor der Strafe, die ihn nun erwartet, wenn die Händler ihn in die Finger kriegen, fleht er Grunberg an, ihn zu erschiessen. Karamakate kann ihn nur mit Mühe davon abhalten. Schliesslich überlassen sie den Alten seinem Schicksal. Ein andermal machen sie an einer Missionsstation halt, an der ein weisser Priester indigenen Waisenkindern mit der Peitsche ihre Traditionen auszutreiben versucht. Im Streit erschlägt der Schamane den Missionar. Auch die Kinder überlässt er hinterher sich selbst.

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Viele Jahre später kehrt Karamakate mit Schultes zu der unterdessen halb verfallenen Station zurück. Die Kinder von einst sind längst erwachsen und frönen einem grausamen Kult, der christliche und indigene Traditionen gleichermassen pervertiert. Mittlerweile, spürt der Schamane, gibt es kein Zurück mehr zur Urtümlichkeit, die von den Filmemachern dann doch leicht esoterisch zur paradiesischen Unschuld überhöht wird, wenn sie ihr Werk den Urwaldvölkern widmen, «deren Lied wir nie kennengelernt haben». Der weisse Mann, die Schlange aber, sie sind in El abrazo de la serpiente mehr als nur ein teuflischer Feind. Der alte, weise Karamakate ahnt, dass auch er moralisch nicht immer recht gehandelt hat. «Wenn die Weissen nicht lernen», prophezeit er, «ist das unser Ende. Und das Ende von allem.» Und er begreift: Nicht seinem Volk muss er sein Wissen vermitteln, sondern dem Fremden, dem Eindringling, dem Mann der Wissenschaft.

El abrazo de la serpiente wirft einen nuancierten Blick auf die Begegnung zweier grundverschiedener Kulturen, ohne dadurch die verheerenden Folgen des Kolonialismus zu verharmlosen. Doch nicht nur auf dieser «Message»-Ebene zeigt sich der Film vielschichtig, filigran. Er ist zudem ein starkes Stück Schauspielkino. Eine spannende Zeitreise. Und zu guter Letzt vor allem auch sinnlich – visuell, musikalisch – und atmosphärisch ein Genuss. Rein historisch betrachtet, liesse sich dem Film eine allzu naiv verklärende Haltung vorwerfen. Guerras märchenhafte Allegorie hingegen entzieht sich diesem Vorwurf weitgehend. Als wäre sie selbst eines dieser Geisterwesen, pirscht sich David Gallegos Kamera von hinten an die Protagonisten heran, begleitet sie ein Stück, driftet wieder weg und schwebt so durch «die Zeit ohne Zeit», in der die Schatten wabern und das Licht harte Kontraste wirft: gestern, vorgestern und morgen.