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Where to Invade Next

Michael Moore ist ein Meister der Rhetorik. In Where to Invade Next führt er auf der Suche nach guten Ideen für die USA durch ein märchenhaftes Europa voller glücklicher Menschen. Eine vergnügliche Invasion.

Text: Tereza Fischer / 25. Feb. 2016

Michael Moore ist ein Meister der Rhetorik. Als Schreibende möchte man sich ein Stück davon abschneiden. In seinem neuesten Dokumentarfilm – oder eher einer Dokukomödie – Where to Invade Next führt der korpulente Filmemacher wie immer eine einleuchtende Argumentation. Moores Mission, die gesellschaftlichen und politischen Missstände in den USA mit seiner filmischen Kriegsführung zum Guten zu wenden, führt ihn diesmal nach Europa und Tunesien. Das Ziel seiner «Invasion» ist die (Rück-)Eroberung von guten Ideen, die die Lebensqualität der US-Bürgerinnen und Bürger steigern könnten.

In Sicko hat sich Moore schon mal aufgemacht, um ausserhalb seiner Heimat ein besseres System zu finden: Anhand der Gesundheitssysteme in Grossbritannien, Frankreich und ausgerechnet im kommunistischen Feindesland Kuba zeigte er empört die gravierenden Mängel im eigenen Land auf. Diesmal beginnt die Tour durch Europa ganz unbeschwert in Italien. Dort inszeniert Moore sein Staunen über sieben Wochen bezahlte Ferien, ein Dutzend Feiertage, lange Mittagspausen und den 13. Monatslohn. Alles Errungenschaften, die die Menschen offenbar glücklich und gesund machen. Komödiantische Fassungslosigkeit auf der einen Seite, authentische Sprachlosigkeit auf der anderen, etwa wenn die Südländer von Null gesetzlich verankerten Ferienwochen in den USA erfahren. «Zero?» «Zero!»

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Dass Italien auch mit weniger schönen Seiten aufwartet, wissen die Zuschauer, und das weiss auch Moore. Er deklariert aber: «My mission is to pick the flowers, not the weeds.» Nur das Gute sucht er also und findet in Frankreich eine gesunde Essenskultur in den Schulen sowie offenen Sexualunterricht, der Teenagerschwangerschaften verhindert, in Finnland die glücklichsten Lehrer und Schüler, die ohne Hausaufgaben im internationalen Durchschnitt am besten abschneiden. In Slowenien haben alle dank kostenloser Hochschulbildung gleiche Chancen, in Portugal sinkt der Drogenkonsum dank Entkriminalisierung des Drogenbesitzes, und in Deutschland bewundert Moore die Achtung gegenüber den Mitarbeitern und deren Erholung, aber auch die konsequente Aufarbeitung der eigenen schwierigen Vergangenheit als Nazistaat. Die Reise gleicht einer Tournee durch ein Märchenland, in dem alle glücklich sind. Das wirkt ansteckend.

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Bewaffnet mit einer US-Flagge und mit messerscharfem Witz stellt sich Moore vor die Kamera und schiesst wie Sokrates mit naiven Fragen auf das Gegenüber. Die Selbstinszenierung als Jedermann gehört genauso zu seinen bewährten Strategien wie der Einsatz emotionalisierender Musik und des nicht minder instrumentalisierten Kontrasts. Letzteren lässt er zwischen Bild- und Tonspur sowie in temporeichen Montagesequenzen entstehen, die ein Hinterfragen der aufeinanderprallenden Gegensätze erschweren. Emotional überwältigend ist in Where to Invade Next insbesondere die Darstellung der paradiesischen Bedingungen in norwegischen Gefängnissen im Gegensatz zur strukturellen und menschlichen Gewalt gegenüber schwarzen Insassen in den USA. Moore lässt der Vereinfachung und Provokation freien Lauf. Gern wird ihm deshalb auch Propaganda vorgeworfen. Etwa wenn er im Dunst von Verschwörungstheorien behauptet, die USA hätten eine neue Art der Sklaverei eingeführt: Jene Drogen, die vor allem von Schwarzen konsumiert werden, seien illegal. So kämen vor allem Schwarze ins Gefängnis, wo sie misshandelt und von der Gesellschaft noch weiter entfernt würden, indem man ihnen das Wahlrecht entziehe und sie für Grosskonzerne wie Victoria’s Secret schuften liesse.

Nach dieser Steigerung ins vollends Plakative wendet sich Moore seinem letzten und wichtigsten Argument zu: Wenn Frauen überall gleichberechtigt wären, ginge es der Welt besser. In Tunesien findet er gesetzlich festgeschriebene Frauenrechte und in Island erfolgreiche weibliche CEOs und Politikerinnen in höchsten Ämtern. Auch hier sind die Argumente so einfach wie einleuchtend: Das einzige Finanzinstitut in Island, das während der Bankenkrise 2008 nicht bankrott ging, wurde von Frauen geführt. An dieser Stelle wird Moores politisches Engagement für die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton spürbar.

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Es scheint als führte vieles, das Moore in seinen Filmen bisher behandelt hat, auf die Aussagen von Where to Invade Next hin: Die USA sollten aufhören, sich überlegen zu fühlen, und sich auf ihre ursprünglichen Werte besinnen. Viele der Gesprächspartner betonen, dass ihr Erfolg eigentlich auf amerikanischen Ideen fusst. Dass Moore seinen US-Zuschauern demonstrativ nichts Fremdes verkaufen will, sondern im Gegenteil den Pioniergeist der USA hervorhebt, ist schlicht die genialste seiner Überzeugungsstrategien.

Seine Reise beschliesst der Mann in militärgrüner Jacke und Tarnfarbenkappe vor den Überresten der Berliner Mauer. Er erinnert sich an die Leute, die 1989 solange unermüdlich daran meisselten, bis die Mauer offen war. Auch er meisselt mit seinen Filmen an den Missständen in den USA. «Hammer, chisel, down!», wiederholt er, denn hinter einer Mauer von Verzweiflung steckt Hoffnung.

Nicht umsonst ist Michael Moore der Popstar des Dokumentarfilms, der weiss, wie man breite Massen erreicht. Leider steht es um Europa nicht so gut, wie Where to Invade Next glauben machen will. Der Film entstand noch vor der Flüchtlingswelle, die Europa arg in seinen Grundwerten erschüttert. Auch sind die meisten Regierungen in den letzten Jahren nach rechts gerutscht, und die populistischen Parteien überwältigen ihre Wähler emotional mit Angstszenarien. Moore setzt auf Hoffnung. Da wünscht man sich, dass sich möglichst viele Zuschauer von seinem Humor und Optimismus anstecken lassen.

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