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Son of Saul

Son of Saul erzählt Dinge über Ausschwitz, die man zwar gewusst, aber noch nie gehört oder gesehen hat. Saul Ausländer ist Mitglied des Sonderkommandos in Ausschwitz, 1944. Eines Tages vermutet er unter den Leichen in der Gaskammer jene seines Sohnes und macht sich auf die Suche nach einem Rabbi, um ihn zu beerdigen.

Text: Philipp Stadelmaier / 07. Mär. 2016

László Nemes’ Son of Saul hat den Vorzug, uns ein oder zwei Dinge über Auschwitz zu sehen und zu hören zu geben, die man bisher zwar gewusst, aber weder gesehen noch gehört hat. Über Auschwitz, das heisst: über seine Darstellung. Der Film funktioniert in dieser Hinsicht wie eine Psychoanalyse dieses Darstellungsproblems. Einerseits scheint Nemes das Wissen zu resümieren, andererseits führt er an dessen verdrängten Ursprung heran.

Dieses Wissen wäre Folgendes: Auschwitz ist ein schwarzes Loch, dem keine Fiktion, also keine Rekonstruktion gerecht werden kann. Mit seinem Zeugenfilm Shoah hatte Claude Lanzmann die bildliche Darstellung derselben für immer verdammt, Georges Didi-Huberman hatte dagegen anhand von Fotografien, die Mitglieder des Sonderkommandos im August 1944 heimlich gemacht hatten, eine unvollendete Bildlichkeit als Widerstand gegen eine definitive Auslöschung starkgemacht. Die von Didi-Huberman beschriebene Genese der Bilder spielt auch in Nemes’ Film eine Rolle. Der folgt Saul Ausländer, einem Mitglied des Sonderkommandos. Dabei klebt Nemes’ Kamera ausschliesslich auf seinem Protagonisten und lässt den Hintergrund unscharf. Dem Un- oder nur Halbdarstellbaren ist damit Rechnung getragen.

Gleich zu Anfang führt Nemes aber zum Ursprung dieses Darstellungsproblems – entlang eines langen Gangs in die Gaskammer. Die Türen schliessen sich, Saul wartet im Vorraum. Dann beginnen die Schreie, die immer mehr anschwellen.
Aber dieser unerträgliche Suspense ist auch die Zeit einer schmerzhaften Analysebewegung: Die Szene zeigt in einem Zug einen Effekt und dessen Ursprung, ein Bild der Abwesenheit (wir bleiben ausserhalb der Gaskammer) wie das Bild von dessen Entstehung. Man begreift, dass Bezeichnungen wie «das unzugängliche Wirkliche» oder die «Bildlosigkeit» der Schoah stets Namen dafür sind. Und alles, was man darüber sagen kann, ist: Man sieht es nicht, während im Schreien die Zeichen dafür immer lauter werden. Der Zuschauer denkt, er wird ohnmächtig, wenn plötzlich die Szene durch Stille und einen schwarzen Hintergrund mit dem Titel abrupt beendet wird: Der Schmerz ist zu stark geworden, die Ohnmacht gewinnt, man bleibt bei den Deckerinnerungen.

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Dieses «das» taucht dann in Gestalt eines Jungen auf, den Saul in der Gaskammer findet. «Leg das da hin», wird Saul später angewiesen, wenn er die Leiche auf einen Obduktionstisch legen soll. «Das», diese Leiche, muss nun zum Ausgangspunkt einer Fiktion (einer Fälschung) oder eines Namens (eines Namens ohne Namen: «mein Sohn») werden. Denn Saul behauptet, in dem Jungen seinen Sohn zu erkennen (nichts ist weniger sicher), und sucht einen Rabbi, um ihn zu beerdigen. In genau dem Moment, in dem Saul seinen Kollegen von seinem Vorhaben erzählt, hat die Fiktion begonnen; im Gegensatz zu Spielfilmen wie Schindler’s List oder La vita è bella spürt man aber den Übergang zu ihr. Zumal es im jüdischen Brauchtum keinen Rabbi braucht, um das Kaddisch zu lesen.

Ähnlich verhält es sich mit der Darstellung der SS. Wenn die SS der gesichtslose und unpersönliche Tod ist, dann ist sie in ihrem ganzen Grauen dargestellt, wenn sie nur unerträgliches Gebrüll und Gebell ohne visuelle Präsenz bleibt. In dem Augenblick, in dem sie in Form eines Schauspielers ein Gesicht bekommt, beginnt ein unwürdiges Theater. Nemes zeigt also, dass das Ereignis Auschwitz untrennbar mit seiner Repräsentation verschmolzen ist: Es gibt keine anderen Kategorien von «Fiktion» und «Wirklichem» für dieses Ereignis als jene, die aus diesem Ereignis selbst stammen. Es ist dies eine simple Information, aber Nemes’ Film macht sie evident (Lanzmann hatte sie zu Gehör gebracht).

Abhärtung ist die einzige Möglichkeit, das Grauen zu ertragen. Solange man im Bild nur Sauls Gesicht mit dem Blick eines schon Toten, nur seinen von aussen (von der SS, also vom Tod) herumgestossenen und angeschrienen Körper erkennt, bleibt jede Identifikation mit diesem Körper ebenso unmöglich wie mit dem Tod selbst. Man sieht den Film weniger, als dass die Führung durch den Film (die analytische Bewegung) eine Abstumpfung ihm gegenüber erzeugt. Wie weit man mit dieser Information noch kommt, ist schwer zu sagen. Denn lange Zeit über gab es Bilder, die es nicht geben durfte oder die an ihrem Platz fehlten; im Jahr 2016 gibt es vor allem solche, die keine Lust machen, neue zu sehen. Aber auch das ist noch eine Information.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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