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Tekir

Le Miracle de Tekir

Ruxandra Zenide positioniert sich mit ihrem erst zweiten Langspielfilm als weibliche Gegenstimme zum international erfolgreichen rumänischen Kino. Im Gegensatz zu den Arbeiten von Kollegen wie Radu Muntean und Cristian Mungiu zeigt Zenides Inszenierung trotz ihres sozialkritischen Gestus eine deutlich wärmere Note – bisweilen sogar eine poetische, die sich der einzigartigen Stimmung dieser Landschaft verdankt, die von einer dunklen Melancholie geprägt ist.

Text: Michael Pekler / 15. Juni 2016

Das Donaudelta ist ein geheimnisvoller Ort. Dort, wo der zweitgrösste Strom Europas ins Schwarze Meer fliesst, scheint die Zeit langsamer zu vergehen und die Ruhe des Flusses sich im Lauf der Jahrhunderte auf die Menschen übertragen zu haben. Die Dinge nehmen hier träge ihren Gang, während der Fluss endlich sein Ziel erreicht hat.

Bereits die ersten Minuten von Le Miracle de Tekir sind von dieser stillen, zugleich aber auch schweren Atmosphäre geprägt. Ein Rinnsal bahnt sich seinen Weg durch den Ufersand, das Meer und der Horizont verschmelzen in der Ferne zu diffusen Grautönen, selbst die Tiere wirken in dieser archaischen Stimmung gefangen. Auch auf der jungen Frau mit den kurzen, dunklen Locken, die in Gedanken versunken den Strand entlanggeht und schliesslich ihre kleine Hütte erreicht, lastet merklich eine Schwere. Denn die Fischer im Dorf kehren, wie man bald erfährt, schon seit Längerem mit leeren Netzen heim, und Mara soll dafür die Schuld tragen: Mit ihrer Schwangerschaft habe sie das Dorf mit einem Fluch belegt, denn Maras ungeborenes Kind habe keinen Vater. Oder einen, den nur der Teufel kenne.

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Auch die Erzählung dieses Films treibt in gewisser Weise mit ihrer Hauptfigur dahin, bahnt sich ihren Weg von einem Schauplatz zum nächsten. In der Kirche findet Mara einen Vertrauten im Pfarrer, der sie, als die Situation im Dorf für sie bedrohlich eskaliert, in «eine Art von Hotel» schickt: ein ­palastähnliches Resort direkt an der Küste, in dem unfruchtbare, wohlhabende Frauen mit dem mythenumwobenen Donauschlamm behandelt werden. Und so wie Lili darauf hoffen, dass sich etwas erfüllt, weil man es mit Geld kaufen kann.

Eine schwangere einfache Frau aus einem Dorf und eine ältere mondäne Dame, die sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind: Was als Konstellation auf den ersten Blick überstrapaziert oder gar konstruiert wirken mag, wird von Ruxandra Zenide glücklicherweise völlig nüchtern betrachtet. So wie das deplatziert wirkende Prunkgebäude mit seinen hohen Hallen, in dem ausser Lili kaum Gäste zu sehen sind und auf dessen steinernen Böden die Bediensteten lautlos durch die Gänge schleichen. Die Annäherung zwischen den beiden Frauen beginnt auf geschäftlicher Basis, denn Lili in ihrem roten Cabrio und mit ihrem jungen Liebhaber erkennt Maras einzigartige Kenntnisse um die Wirkung des besonderen Schlamms, den diese im Hinterland aus einem kleinen Tümpel schöpft. Dafür findet Mara auf Betreiben Lilis im ­«Hotel Tekir» eine Anstellung und ist gezwungen, ihre Schwangerschaft so lange wie möglich zu verbergen – die einzige Chance auf ihres Kindes Zukunft.

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Der Pakt, der hier geschlossen wird, erweist sich jedoch bald als brüchig. Kann man eine solche Art von profaner Geschäftsvereinbarung treffen, die auf blossem Glauben – oder vielleicht gar einem Aberglauben – beruht? Wider Erwarten erweist sich Maras Position als die stärkere: Die beinah stoische Ruhe der Jüngeren ist der aufgesetzten Exaltiertheit der Älteren zunehmend überlegen. Denn Mara schöpft ihre innere Kraft aus ihrem mit dem Land verwurzelten Dasein, während die in der Schweiz lebende Lili, obwohl gebürtige Rumänin, den geheimnisvollen Zauber dieses Landstrichs nicht zu verspüren vermag.

Le Miracle de Tekir ist von einem bedächtigen Rhythmus geprägt, dem etwas Magisches anhaftet. Der Film macht das Alte erst durch das Neue sichtbar: die Tradition durch das Moderne, den Aberglauben der Dörfler durch den aufgeklärten Humanismus des Pfarrers, die stein­alten Mauern des Hotels durch die in der Ferne aufragenden Baukräne.

Ruxandra Zenide positioniert sich mit ihrem erst zweiten Langspielfilm somit als weibliche Gegenstimme zum international erfolgreichen rumänischen Kino. Im Gegensatz zu den Arbeiten von Kollegen wie Radu Muntean und Cristian Mungiu zeigt Zenides Inszenierung trotz ihres sozialkritischen Gestus eine deutlich wärmere Note – bisweilen sogar eine poetische, die sich der einzigartigen Stimmung dieser Landschaft verdankt, die von einer dunklen Melancholie geprägt ist. Dass Ruxandra Zenide, obwohl bereits 1989 von Bukarest nach Genf ausgewandert, mit Le Miracle de Tekir eine besondere Nähe zu ihrem Heimatland und eine Affini tät für die alten Mythen beweist, liegt möglicherweise an eben dieser Distanz. Das gilt besonders für solch märchenhafte Orte wie jenen an der Schwarzmeerküste, in dem die erstaunlichsten Dinge geschehen, für die niemand eine Erklärung hat. Und die man auch niemandem erklären will.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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