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Un Juif pour l’exemple

Wie macht man aus Jacques Chessex’ ­verstörender Schilderung des Judenmords von Payerne 1942 einen Film auf Augenhöhe, ­der ins Heute trifft? Jacob Berger hat es gewagt. Mit Bruno Ganz.

Text: Martin Walder / 14. Sep. 2016

Payerne kommt vor Jacques Chessex nicht zur Ruhe. Er ist wieder da, diesmal im Film, der umstrittene, wortgewaltige Waadtländer Literat und Goncourt-Preisträger, der vor seinem Tod 2009 sein Heimatstädtchen in einem Roman zum Mahnmal gegen Nazi-Gesinnung unter den Dächern der lieblichen Broye gemacht hatte. Dort wurde vor einem Dreivierteljahrhundert der jüdische Viehhändler Arthur Bloch aus Bern in einen Stall gelockt und buchstäblich geschlachtet – «un Juif pour l’exemple». Bruno Ganz verkörpert diesen im Film mit der selbstbewussten Behaglichkeit eines Charmes ohne Argwohn; das delikate Opferthema klingt wie schon im Buch nachdenklich an.

Jacques Chessex hatte am Markttag des 16. April 1942 die tückische Tat des lokalen Garagisten Fernand Ischi und einer Handvoll sozial deklassierter Existenzen, dem «Führer» zum nahen Geburtstag zugedacht, nicht direkt mitbekommen. Aber er hatte sie so miterlebt, wie derlei ein Kind heimsuchen kann. Er kannte die Protagonisten, ihre Familien, und der Mord hat ihn ein Leben lang nicht mehr losgelassen. Sein Roman provozierte und polarisierte heftig; der Film nun lässt die Stimmen pro und contra zu Beginn eifernd in ein fingiertes Radiointerview hereinschwappen, das den Autor, einsam vor seinem Mikrofon, gar nicht mehr zu Wort kommen lässt.

Das heisst: Die öffentliche Meinung hat das Heft über die Geschichte längst in die Hand genommen. Und sie soll so schnell auch gar nicht zur Ruhe kommen, insinuiert dieser Film. Gerade heute nicht, wo Haltetaue zwischen Gesinnung und mörderischer Tat in erschreckender Kadenz reissen, wo das Fremde zutiefst verängstigt. Der Aktualisierung durch Accessoires wie moderne Polizeiuniformen oder Autos hätte es nicht bedurft.

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Jedenfalls ist Chessex als Figur mit drin im Film und schaut zurück. Als Bub, Sohn des Schuldirektors, und als alter Mann geistert er durch die kleinstädtische Kulisse des Geschehens, sprachlos – André Wilms verkörpert ihn mit der Intensität stummen Schmerzes. Am 9. Oktober 2009 brach der Autor anlässlich einer öffentlichen Lesung tot zusammen, nachdem er von einem anwesenden Familienvater als Pornograf attackiert worden war. Der Film lässt sich den Vorfall nicht entgehen und nimmt sich die Freiheit, den Aufruhr um «Un Juif pour l’exemple» mit diesem Tod direkt zu verknüpfen; in Wirklichkeit hat sich jener fatale Disput in Yverdon um die Theateradaption eines andern Chessex-Romans im Zusammenhang mit der Causa Roman Polanski gedreht.

Aber die Vereinnahmung ist vertretbar. Die Geschichte ist eine auf Leben und Tod. Ob aller nachvollziehbaren Empörung über die im letzten Satz des Romans ungeheuerlich heraufbeschworene Überblendung der «collines d’Auschwitz et de Payerne» darf nicht überlesen werden, welche ganz andere, theologische Dimension hinter den politischen Realitäten hier aufgerissen wird. In einer fundamentalen Anklage nämlich, wie sie auf Arthur Blochs Grab in Stein gemeisselt von messerscharfer Ambiguität bleibt: «Gott weiss warum».

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Dem Film ist zugutezuhalten, dass er Chessex hierin klar und redlich folgt. Die Frage ist, wie er dies tut, wie er überhaupt erzählt. Ja, er tut es redlich, respektvoll, sorgfältig, in fast karg illustrierten Szenen. Episode für Episode wird das Geschehen rekapituliert, beginnend mit der wirtschaftlichen Not fallierender Bauern; auch der Schliessung einer Fabrik ist eine Sequenz gewidmet. Umgekehrt bleibt die Gestalt des üblen, drahtziehenden Pasteurs Philippe Lugrin, der den bösen kleinen «apprenti Gauleiter» Ischi (vorzüglich: Aurélien Patouillard) in einen grösseren historischen Kontext zu den Agitationen des Mouvement National stellt, überraschend marginal. Alles in diesem Film erscheint als bewusst gesetzter Kontrapunkt zu Chessex’ visueller Sprachgewalt. Im Vertrauen darauf, dass die Geschichte und ihr (aktuelles) Potenzial stark genug seien? Diese Rechnung würde nicht ganz aufgehen. Immerhin lässt die Strenge von Manfred Eichers Musikauswahl jene Unerbittlichkeit anklingen, welche die Erzählung filmisch der leisen Blässe entzogen hätte, die dieses Buch schlecht erträgt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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