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Pio

Eine an den Rand gedrängte Minderheit rückt ins Zentrum. Sensibel wird der ­Existenzkampf einer Roma-Familie unter der Fuchtel von Staat und Mafia als brutale ­Hackordnung gezeigt. Ihr setzt der Film seine eigene Empathie entgegen.

Text: Philipp Stadelmaier / 26. Dez. 2017

In Mediterranea (2015), seinem ersten Spielfilm, hatte Jonas Carpignano mit afrikanischen Migranten in Kalabrien gearbeitet, die sich selbst spielten. Der Film zeigte ihre Reise nach Italien, ihre Integration in die dortige afrikanischen Gemeinde und ihre Versuche, ein neues Leben aufzubauen. In Pio, der dieses Jahr in Cannes in der Quinzaine des Réalisateurs lief, setzt Carpignano seine Arbeit in der kalabrischen Hafenstadt Gioia Tauro fort. Bei den Dreharbeiten zu Mediterranea lernte er eine weitere Minderheitengemeinschaft der Gegend kennen, die Roma, und brachte die Familie Amato dazu, sich selbst zu spielen. Herausgekommen ist ein Film, der wie Mediterranea von einer bedingungslosen Solidarität des Regisseurs zu seinen Schauspielern getragen wird, die all ihre lärmende Energie in den Film werfen. Die Kinder rauchen, das Lachen ist laut, das Geschimpfe am Familientisch deftig: «Ich piss’ dir in den Mund», «Gleich gibts die Flache ins Gesicht», «Ich schlag dir den Schädel ein».

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Im Mittelpunkt steht der vierzehnjährige Pio, der schnell erwachsen werden und seine älteren Brüder bei Autodiebstählen und Einbrüchen unterstützen will, durch die sich die Familie über Wasser hält. Nachdem seine Brüder ins Gefängnis wandern, beginnt er, durch Kleindiebstähle und Geschäfte mit Afrikanern Geld zu verdienen. Ayiva aus Burkina Faso, die Hauptfigur aus Mediterranea, taucht wieder auf und wird Pios Freund, Mentor und Geschäftspartner.

Carpignano zeigt einen Jungen, der Gangster werden will, was an Martin Scorseses Good Fellas erinnert, der hier ausführender Produzent ist. Wie dieser filmt Carpignano das Leben von einem, der sich selbst eine Mission gegeben hat, als rasante Entwicklung mit wildem Tempo. Schon in der ersten Einstellung rennt Pio gegen eine Tür, um seinen Bruder zu zwingen, ihn mitzunehmen, danach will er ein Motorrad starten und durchquert eine Tanzbar, die Handkamera stets an ihm, mit ihm vorwärts preschend, getrieben und unruhig.
Auch weil es um diesen Wunsch Pios geht, Gangster zu werden, ist Carpignano auf der Seite der Roma. Die Kriminalität ist ihr normaler Lebensmodus, zu ihr gibt es keine Alternative. Die Amatos leben fernab der italienischen Gesellschaft, ohne jede Perspektive auf Teilhabe an «legalem» Wohlstand. Die Polizei kommt regelmässig und verhaftet willkürlich Leute. Die Welt der Roma ist immer schon eine Welt à part, jenseits der staatlichen Gesetze, die nur einen Sinn haben: sie zu demütigen und zu drangsalieren. Die Roma stehen sogar noch jenseits der «offiziellen» italienischen Kriminalität, der Mafia, die die Amatos für sich arbeiten lässt und sie dabei gnadenlos ausbeutet.

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Wie in Mediterranea rücken die Minderheiten ins Zentrum der Welt, der Film erzählt ausschliesslich aus ihrer Perspektive. In seinem ersten Film hatte Carpignano den Blick der Migranten auf die Weissen gezeigt, die nur eine indifferente, fast gespenstische Randerscheinung waren; auch hier tauchen die weissen Italiener, also Polizei und Mafia, nur punktuell am Rand auf – die von ihnen ausgehende Diskriminierung ist so vorhersehbar und alltäglich, dass nur noch sporadisch an sie erinnert werden muss. Die spannendste Frage des Films lautet dann: Ist Solidarität unter den Minderheiten, den Roma und den afrikanischen Migranten, möglich oder nicht? Der Familienälteste, der die frühere Freiheit der Roma vermisst, predigt Pio die Tradition der Gemeinschaft und ihren unbeugsamen Stolz als Aussenseiter; sein älterer Bruder will die Migranten ausrauben, die für ihn in der sozialen Rangordnung noch unter ihnen stehen und noch weniger von den Italienern respektiert würden als sie selbst. So wird eine kulturelle Identität gegen eine andere ausgespielt, eine verarmte Minderheit stürzt sich auf eine andere, anstatt sich mit ihr gegen die Herrschenden zu verbünden. In einer anderen Szene aber wird Pio, der sich mit Ayiva angefreundet hat, von den anderen Afrikanern herzlich aufgenommen, die ein Signal in Richtung Solidarität geben: «Wir sind alle Zigeuner.»

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Carpignano erweist sich damit als politisch und sensibel für die kulturelle Problematik. Er zeigt beide Gruppen als «gleich», ohne zu vergessen, dass es Unterschiede in ihrer Geschichte und ihrer Diskriminierung gibt und dass auch Roma rassistisch sein können. Gerade seine Solidarität mit den Figuren verbietet es ihm, Solidarität zu konstruieren, wo sie (noch) nicht ist. Sein Film, in dem er verschiedene Gruppen zusammenbringt, ist umso mehr als ein Versprechen zu verstehen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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