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Miséricorde

Der Tessiner Fulvio Bernasconi hat mit dem Drehbuchautor Antoine Jaccoud (Bouboule, Sister, Home) ein Antiheldendrama geschrieben, das von Schuld und Wiedergutmachung erzählt.

Text: Tereza Fischer / 21. Mär. 2017

Thomas Berger hat seinen kleinen Leihwagen in den Strassengraben gestossen, um zu Fuss weiter der Strasse zu folgen, die in den Norden Kanadas führt. Es ist kalt, die Gegend einsam. Vergeblich versucht er, von einem Truck mitgenommen zu werden. Das schwarze Ungetüm rast bedrohlich schnell an ihm vorbei. Aber schon ein paar Kurven weiter steht es da, als würde es auf Thomas warten. Die Musik begleitet emphatisch die Bedrohlichkeit des Trucks, der zunächst die Sicht darauf versperrt, was ihn zum Stehen gebracht hat: Etwas überrascht entdeckt Thomas eine aufgelöste Fahrerin am Strassenrand. Sie hat ein Reh überfahren, das nun unter dem Wagen liegt. Thomas erbarmt sich des verletzten Tiers. Die Art und Weise aber, mit der er es mit einer Eisenstange von seinem Leiden erlöst, ist von erschreckender Brutalität. Barmherzigkeit als Gewaltakt.

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Was treibt diesen Mann an, der es sich in den Kopf gesetzt hat, den Verantwortlichen für den Tod eines jungen Ureinwohners zu finden? Thomas ist zu Hause in Genf Polizist und in die Provinz Québec zum Fischen gekommen. Am Tag seines geplanten Rückflugs wird Muki, der Sohn einer Bekannten, auf seinem Fahrrad von einem Truck zu Tode gefahren. Der Fahrer lässt den Schwerverletzten liegen. Thomas verspricht, den Schuldigen zu finden; dieser soll bei Muki und seiner Mutter um Vergebung bitten. Mit seinem Verhalten erregt Thomas bald die Aufmerksamkeit der lokalen Polizei, die sich auch für Thomas' scheinbar selbstloses, aber auffälliges Engagement interessiert. Geführt werden die Ermittlung von einer schwangeren Polizistin, die auch wegen ihrer Hartnäckigkeit und Integrität an Frances McDormands Rolle in Fargo erinnert.

Zwei grosse Fragen sorgen also für Spannung in diesem eher gemächlichen Film: Wer hat Fahrerflucht begangen, und warum ist Thomas auf der Jagd nach dem Schuldigen? Der Tessiner Fulvio Bernasconi hat mit dem Drehbuchautor Antoine Jaccoud ([art:bouboule:Bouboule], [art:sister:Sister], Home) ein Antiheldendrama geschrieben, das von Schuld und Wiedergutmachung erzählt. In einer weiten Landschaft, in der man leicht auf sich selbst gestellt sein könnte, hat Bernasconi den inneren und einsamen Kampf seines Protagonisten inszeniert. Dabei führt er Tragik und Bedrohlichkeit leider zu sehr über die Musik. Der Soundtrack von Nicolas Rabaeus taucht das Geschehen von Anfang an in eine bleischwere Atmosphäre und übertüncht dabei manchmal die Subtilität und die visuelle Kraft der (Landschafts-)Bilder.

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Fast alle Figuren erweisen sich auf irgendeine Weise als schuldig. Was die Vergehen verbindet, ist folgenschweres, aber unabsichtliches Tun. Mukis Onkel etwa hat den stark Betrunkenen zur Strafe den langen Weg Fahrrad fahren lassen und so seinen Tod mitverschuldet. Über allem schwebt auch die Schuld der kanadischen Gesellschaft gegenüber der Urbevölkerung mit, wenn die Mutter sagt: «Niemand entschuldigt sich bei uns.»

Offensichtlich will Thomas sich von einer eigenen Schuld reinwaschen. Aber lässt sich der Tod eines Menschen mit guten Taten wiedergutmachen? Kaum, aber Thomas will für den Verantwortlichen für Mukis Tod, was er für sich selbst erhofft: Vergebung. Sie ist der wahre Akt der Barmherzigkeit.

Die Schuldigen sind in ihrer Verletzlichkeit überzeugend. Der Belgier Jonathan Zaccaï spielt den innerlich versehrten Thomas mit Hundeblick und mit der verzweifelten Energie eines Gehetzten. Man möchte ihm verzeihen, und doch verstört seine Aggressivität. Es wäre einfach, einem durch und durch guten Menschen zu vergeben. Barmherzigkeit gegenüber Tätern ist eine Herausforderung. In diesem Fall auch für die Zuschauer.

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