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Une vie ailleurs

Im Mittelpunkt von Peyons Drama steckt ein unlösbares Dilemma, das am moralischen Zwiespalt eines Aussenstehenden gespiegelt wird.

Text: Lukas Stern / 17. Mai 2017

Sylvie hat ihren neunjährigen Sohn Felipe seit vier Jahren nicht mehr gesehen; seit er damals von ihrem Exmann Pedro nach Uruguay in dessen frühere Heimat entführt worden ist. Mittlerweile ist Pedro gestorben, und der Junge lebt bei seiner Oma Norma und seiner Tante María in einem hübschen, roten, hinter einem hochwachsenden Oleander versteckten Haus an einem Bahnübergang im uruguayischen Florida. Nach dem Fussballspiel radelt er manchmal zum Friedhof, klaut von den Gräbern wählerisch einen Blumenstrauss zusammen und legt ihn neben ein Holzkreuz, das er selbst in die Erde gesteckt und in das er das Wort «Mama» geritzt hat. Seine Mutter sei, so hat ihm sein Vater vor seinem Tod erzählt, bei einem Autounfall in Frankreich gestorben und dort auch beerdigt worden. Diese nachmittäglichen Trauer­rituale muss er vor der Oma verheimlichen, die findet, er sei zu jung und zu zerbrechlich dafür. Der grösste Skandal in Une vie ailleurs ist zugleich der nachrangigste. Die Oma kennt die Lüge – und sie lässt das Kind trotzdem um die Mutter trauern.

Dieser Skandal, der sich verjährt anfühlt und der mit grossmütterlichen Zärtlichkeitsgesten zugedeckt wurde, macht bereits klar, wie sich dieser Film zu jenem Verbrechen positioniert, das ihn anleitet: zum Verbrechen an Mutter und Kind. Die Untat ist janus­köpfig: Die Gewalt, die der Mutter angetan wird, ist derart verschieden von der Gewalt, die das entführte Kind erfährt, dass es gerade die Unterschiedlichkeit und die Unvereinbarkeit der Gewalten ist, die Mutter und Kind so brutal voneinander trennen. Die Beziehung wird nicht einfach nur von aussen gewaltsam aufgetrennt, sie zerfrisst sich selbst von innen. Mit jedem Tag der Trennung wird sie unmöglicher, verschwinden Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen Mutter und Kind. Der Kern dieses Unrechts liegt nicht in der Trennung, sondern in deren Entfremdung, und das Drama in Olivier Peyons Film ist eben keines, das sich schlicht durch Wiedervereinigung aufheben liesse.

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Peyon konstruiert seinen Film in dieser Hinsicht sehr geschickt. Sylvie hat nämlich Mehdi, einen Sozial­arbeiter, engagiert und mit dessen Hilfe ihren Sohn ausfindig gemacht. Gemeinsam reisen die beiden nach Montevideo, um Felipe gewissermassen zurückzuentführen. Während Sylvie sich in der Stadt um Unterkunft und Rückreise kümmert, fährt Mehdi nach Florida, um mit Felipe in Kontakt zu treten und ihn zu seiner Mutter zurückzubringen. Lange Zeit – es ist die spannendste dieses Films – ist Mehdi das Zentrum von Une vie ailleurs; er ist jener Dritte, der den Abstandsraum zwischen Mutter und Kind bespielt, jene Figur, an der das vielschichtige Dilemma des Films und der gewaltige Skandal erst Kontur gewinnen. Einmal telefoniert er mit einem Kollegen, der ihn daran erinnert, dass er Sozialarbeiter und nicht Detektiv sei, dass er das Kindeswohl nicht aus den Augen verlieren dürfe. Mehdi ist eine prekäre Figur, deren Kraftanstrengung darin besteht, die getrennten Fäden nicht nur wieder zusammenzuführen, sondern ihre losen Enden überhaupt erst aufzuspüren. Die Geschichte der Wiedervereinigung ist die Geschichte der Vermittlung durch und das geteilte Vertrauen auf einen Dritten. Und §Une vie ailleurs funktioniert genau da am besten, wo er diese Umwegsgeschichte erzählt, wo er in der Lücke zwischen Mutter und Kind die eigentliche Hauptfigur des Films etabliert – und mit ihr die prekäre Perspektivität, durch die das Drama erst Drama wird.

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Felipe geht es eigentlich ganz gut bei seiner Oma. Die Erstkommunion, die ihn nur noch mehr mit der Gesellschaft um ihn herum verzahnen wird, steht ins Haus – auf den Festakt freut er sich. Es ist unmöglich, das wird schnell klar, Felipe aus dieser Welt herauszulösen. Je näher sich Mutter und Sohn kommen – so das brutale Verzerrungsprinzip des Films –
desto grösser wird der Raum zwischen ihnen, desto komplexer wird Mehdis Mission, desto mehr werden Skandal und Drama des Films zu Mehdis persönlichem Konflikt, desto mehr lösen sie sich von den Akteuren, die sie eigentlich betreffen. Dass Une vie ailleurs über weite Strecken die Mutter fast vollständig aus dem Spiel nimmt, ist deshalb überaus konsequent. Einmal sehen wir sie durch ein paar Fotos scrollen, auf denen man Felipe beim Fussballspielen sieht, umschlungen von seinen Teamkameraden beim Torjubel, später auch mit Mehdi, der mitspielt und mitjubelt, der sich aufs Foto drängte und damit ins Zentrum des Films. Dass das Wiedersehen zwischen Mutter und Kind am Ende dann beinahe etwas angehängt, vom Vorlauf des Films fast schon abgekoppelt wirkt, liegt gerade daran, dass der Film sich zu dem Wagnis hinreissen liess, inmitten der Mutter-Sohn-Tragödie eigentlich die Geschichte eines Dritten zu erzählen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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