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Victoria von Justine Triet

Zwei Filme, die je um eine mit sich selbst beschäftigte Figur kreisen. Mal gelungen, mal weniger. Eine vergleichende Doppelkritik.

Text: Philipp Stadelmaier / 02. Mai 2017

Auf den ersten Blick haben Victoria von Justine Triet und Vincent von Christophe Van Rompaey wenig gemeinsam. In Victoria muss eine Pariser Strafverteidigerin, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, zwischen ihrem Liebes- und Berufsleben die richtige Balance finden; Vincent dreht sich um einen depressiven belgischen Jugendlichen, der als militanter Öko-Aktivist seine Familie in arge Schwierigkeiten bringt. Victoria ist ein Autorenfilm, der sich bei Woody Allen, John Cassavetes und François Truffaut bedient und die Thematik von Justine Triets erstem Langfilm, La bataille de Solférino, fortsetzt: eine labile Frauenfigur im Kampf gegen das Chaos, in das sie und die Männer um sie herum ihr Leben verwandeln. Vincent hingegen präsentiert nicht Chaos und Komplexität, sondern Eigenschaften: einen Reigen aus «durchgeknallten, aber insgeheim liebenswerten» Figuren, sodass für jeden Zuschauer etwas Schönes dabei ist.

Dennoch haben beide Filme etwas gemeinsam: Sie tragen die Namen ihrer Hauptfiguren im Titel, Namen von Personen aus dem bürgerlichen Milieu, die nicht aufhören, um sich selbst zu kreisen. Und beide Filme zeigen, wie sich das heutige bürgerliche Kino politisch desengagiert. Aber auf zwei verschiedene Weisen.

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In Vincent wird die Politik explizit thematisiert. Vincent ist Umweltaktivist, vegan, Tierrechtler, gegen die Ausbeutung der Welt durch grosse Konzerne. Nun ist der junge Mann aber hauptsächlich ein Tyrann, der seine Familie permanent moralisch massregelt. Vor allem wird der Revoluzzer aber als depressiv dargestellt. Der Film beginnt damit, dass er sich umbringen will, um eine Revolution loszutreten – wie der tunesische Gemüsehändler, dessen Selbstverbrennung am Beginn des Arabischen Frühlings stand. Sein Therapeut bemerkt treffend, dass sein Selbstmordversuch zu Hause statthatte, was weniger auf politisches Engagement als auf einen Schrei nach Aufmerksamkeit hinweist. Als überraschend Vincents Tante auftaucht und ihn auf einen Selbstfindungstrip durch Frankreich mitnimmt, sieht er die Chance, es ein zweites Mal besser zu machen: Diesmal will er sich unter dem Eiffelturm in Flammen setzen. Unterstrich Van Rompaey schon beim ersten Selbstmordversuch Vincents Selbstsucht (eine seiner Schwestern ist hochschwanger), so tut er dies beim zweiten Mal umso mehr: Auf dem Weg zum Eiffelturm rennt Vincent Bettler, Verkäufer und Passanten blindlings über den Haufen. Die Botschaft ist klar: Vincent ist rücksichts- und herzlos, er interessiert sich nicht für die Welt um ihn herum.

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Auf diese Weise entsteht ein negatives Bild eines moralisierenden und selbstverliebten Gutmenschen; sein politischer und ökologischer Aktivismus wird der schieren Lächerlichkeit preisgegeben. Ökologische und antispeziesistische Ideen werden hier auf die Unreife und Selbstsucht eines jungen Mannes reduziert und als Ausdruck einer privaten Depression dargestellt – womit sie völlig verfehlt werden. Zudem ist die Depression, anders als etwa im grossartigen [art:la-fille-inconnue:La fille inconnue] der Brüder Dardenne, nicht Ausdruck komplexer äusserer sozialer Umstände, sondern zeugt von banalem Selbstmitleid. Auf diese Weise verkommt jedes Engagement zur Karikatur, zum peinlichen, unangemessenen Diskurs – wie auf der Hochzeit der Tochter des Pharmachefs, auf der Vincent am Ende landet und wo er nur zum nervigen Spassverderber werden kann, der sich vor einem verlockenden Buffet mit Austern und Crevetten echauffiert.

Vincent ist Arthouse-Kino als Kino des neolibe­ralen Konsens und des Status quo – es darf keine Zuschauer verprellen, den Pharmachef ebenso wenig wie den veganen Öko-Aktivisten. So läutert der Film am Ende auch Vincent von seiner Antipathie und führt ihn zurück in seine Familie. Um eine pseudoengagierte Botschaft abzusondern, unverbindlich wie der Welt­klimavertrag: «Kommende Generationen werden auf die Natur mehr achtgeben.»

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Politik als lästiger Hintergrund, den man nicht loswird und daher nur verächtlich streift; Politik als Kulisse für die psychologischen Affären der Protagonisten: Dies war schon der Fall in Triets La bataille de Solférino, wo am Tag des zweiten Wahlgangs der französischen Präsidentschaftswahlen 2012 eine Journalistin Besuch bekommt von ihrem psychisch labilen Exmann. Triet filmte einen historischen Moment und machte sich über ihn lustig, indem sie sich nicht für ihn interessierte, ihn mit einem chaotischen Beziehungsdrama überlagerte. Wie Vincent bei Van Rompaey und der Exmann in La bataille de Solférino hat nun auch ­Victoria psychische Probleme und muss ihr Leben auf die Reihe kriegen: Sie kreist um sich selbst, vernachlässigt ihre Kinder, ist depressiv und dem Alkohol verfallen. Und auch hier wird aus ihrer Depression kein soziales Syndrom. Darüber hinaus gibt es heute Interessanteres zu filmen als das Liebes- und Berufsleben einer weissen heterosexuellen Strafverteidigerin aus dem Pariser Bobo-Milieu.

War aber die Politik noch der indifferente Hintergrund und damit die Schwäche von La bataille de Solférino, so ist diese aus ihrem sehr gelungenen zweiten Langfilm verschwunden. Triet braucht keine äusseren politischen Ereignisse mehr, um das Chaos im Leben der alleinerziehenden Mutter und ihre Depression zu konkretisieren – nur ein Geflecht aus Beziehungen und Kämpfen. Victoria verteidigt einen Exfreund gegen einen Vergewaltigungsvorwurf, klagt gegen ihren Exmann, der ihr früheres Leben auf einem Blog ausbreitet, und beginnt eine Romanze mit einem ehemaligen Klienten, einem Dealer, der ihr Babysitter und Assistent wird. Zwischen Komik und Verzweiflung, Romanze und Gerichtsfilm, Lust- und Destruktionstrieb erinnert das wohlorganisierte Lebenschaos an die Kunst des Ausgleichs zwischen Extremen in Truffauts Filmen oder an die Kunst des Schlagabtauschs bei David O. Russell: Virginie Efira spielt wie Jennifer Lawrence in Joy eine Frau, die ein Leben führt wie eine Boxerin; ein Leben, in dem Erfolge und einbrechende Katastrophen wechseln wie Schläge, die mal ausgeteilt, mal eingesteckt werden – am Ende ist Victoria in zwei Prozessen gleichzeitig, im einen als Verteidigerin, im anderen als Opfer.

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Kein Film muss politisch sein. Aber jeder ist es immer doch ein bisschen. Fürs Arthouse-Kino ist es daher oft besser, gar nicht erst so zu tun. Sowohl Vincent als auch Victoria drehen sich um die Depressionen der Protagonisten; Politik spielt an sich keine Rolle. Dennoch macht Van Rompaey eine private Depression zur Ursache von politischem Engagement, wodurch er sie verfehlt und diskreditiert. Triet hingegen macht die Depression zum Kampfschauplatz zwischen Liebesleben und beruflichem Leben. Beide Filme haben bürgerliches Personal, dem es im materiellen Sinn an nichts mangelt. Aber aus diesem Mangel an Nichts, den Triet anerkennt – die Unsicherheit darüber, was genau eigentlich Victorias Problem ist – glaubt Van Rompaey, einen politischen Diskurs machen zu müssen. Er täuscht sich gewaltig.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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