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120 battements par minute

Leidenschaftlich und mitreissend porträtiert Robin Campillo den gemeinsamen Kampf von Pariser Aktivisten gegen die Aidsepidemie der Neunziger. Für ein pulsierendes Leben und gegen die Gleichgültigkeit der Gesellschaft.

Text: Doris Senn / 16. Jan. 2018

Blutrot strömt die Seine durch Paris. Ein ausdrucksstarkes, symbolhaftes Bild für eine Zeit, in der Aids jährlich Hunderttausende Leben forderte. Damit schliesst – in Protest und stiller Trauer – Robin Campillos packende Hommage an eine Bewegung, die sich in den Neun­zigern dem politischen Kampf gegen Aids verschrieb: 120 battements par minute erzählt von Act-up Paris und deren Engagement gegen eine untätige Regierung und gegen unkooperative Pharmafirmen.
Campillo war selbst ein Aktivist in jener Zeit. Er hatte die Filmschule absolviert, stellte dann aber das politische Engagement vor die eigenen Filmprojekte. Zu dieser Zeit hatte das ominöse Virus bereits eine Million Leben dahingerafft. Und die hauptsächlich Betroffenen, ohnehin schon diskriminierte Minderheiten – Schwule, Prostituierte, Drogenabhängige, Gefängnisinsassen – wurden zusätzlich stigmatisiert.

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In 120 BPM schafft es Campillo nicht nur, von der umtriebigen Bewegung zu erzählen, sondern auch vielfältige Einzelschicksale damit zu verweben. Im Zentrum Sean und Nathan, hervorragend gespielt von Nahuel Pérez Biscayart und Arnaud Valois. Sean wurde mit sechzehn beim ersten Sex von seinem (verheirateten) Mathelehrer angesteckt. Wie verlogen und heuchlerisch wirkt da, wenn ein Schuldirektor gegen Aufklärungsaktionen in den Klassen vorgeht mit dem Argument, dass die Schüler_innen durch die Act-up-Info überhaupt erst sexualisiert und gefährdet würden … Arnaud wiederum hatte sich nach den ersten erschreckenden Nachrichten zu Aids zurückgezogen und enthaltsam gelebt. Was ihm zu diesem Zeitpunkt das Leben rettete. Nun aber schliesst er sich als frischgebackener Politaktivist Act-up an, verliebt sich in den kämpferischen Sean, wird zu seinem Geliebten und fürsorglichen Freund.
Campillo, der bereits als Drehbuch-Koautor und Editor des César-gekrönten Entre les murs über eine Französischklasse in der Pariser Banlieue sein Geschick für «Gruppenfilme» unter Beweis stellte, tut dies erneut bei 120 BPM. Das Setting, insbesondere das der Debatten im Kollektiv, dient ihm dazu, die Kernpunkte der Auseinandersetzungen herauszu­kristallisieren, ohne dabei länglich oder phrasenhaft zu werden. Er gibt den Zahlen und der Krankheit Gesicht und Körper. Wie überhaupt «Verkörperlichung» laut Regisseur – in einer Zeit, in der es weder Internet noch soziale Netzwerke oder Handys gab und die «physische» Versammlung die einzige Möglichkeit war, ein gemeinsames Vorgehen zu diskutieren – «einer der ganz zentralen Punkte des Films» ist. Gesicht und Körper sind denn auch wichtige Werkzeuge in den von Act-up durchgeführten Aktionen in der Konfrontation mit Behörden und Pharmafirmen, welche die Augen vor der Not der Betroffenen verschlossen und sich der Dringlichkeit von Massnahmen und Informationen verweigerten.

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120 BPM – in Cannes unter anderem mit dem Grossen Preis ausgezeichnet – ist mit einnehmender Verve inszeniert. Zwischen die temporeichen Aktionen und bewegten Diskussionen im Plenum schieben sich immer wieder atmosphärische Entreactes von Partys, Clubs, Gay Pride, die zeigen, dass es neben dem politischen Kampf auch Hochgefühle und Lebensfreude gab. So in den Discoszenen, in denen die Figuren – und wir – in Ausgelassenheit und Unbeschwertheit eintauchen und den düsteren Alltag aussen vor lassen. Die Bilder zelebrieren diese Momente, die dem Film Leichtigkeit verleihen. Schärfenverlagerungen verwandeln Staubpartikel zu glitzernden Konfetti, die schwerelos in der Luft schweben, und den tiefblauen Raum in ein nebelhaftes Sternenuniversum – in nahtlosem Übergang dann in fluffige Irgendwas, die sich erst auf den zweiten Blick in ihrem unverfänglichen Erscheinungsbild als Aidsvirus zu erkennen geben und dieses als stille Bedrohung wieder ins Bewusstsein rücken.

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Die Kamerafrau Jeanne Lapoirie, die schon mit Léa Pool arbeite (Emporte-moi), mit André Téchiné (Les Voleurs) oder François Ozon (8 Femmes), lässt den Film in diesen Sequenzen Atem holen. Es sind lange Einstellungen, in denen sich die Kamera dem Fluss der Handlung hingibt – sei es bei Diskussionen in der Gruppe oder beim Sex. So erscheinen nicht nur die tanzenden Menschen im dunstigen Blau der Disco schemenhaft. Auch wenn Sean und Nathan zusammen schlafen, tauchen ihre Körper fragmenthaft und marmorn-schön aus dem blauen Dunkel auf. Das Setting hat etwas Nüchtern-Unromantisiertes, deshalb aber nicht weniger Leidenschaftliches.
So gelingt Campillo mit seinem einnehmenden Zeitporträt eine berührende Hommage an Freundschaft, Community, Liebe und Sex in einer Zeit, die all dem entgegensteht. Er zeigt den politischen Kampf und die Ekstase ebenso wie das Leben, die Verzweiflung, die Trauer. Die Musik – die auch im Filmtitel anklingt – ist dabei ein tragendes Element: Campillo bezeichnet den House als «Soundtrack jener Ära» und verwendete dafür Kompositionen von Arnaud Rebotini – einem Musiker und DJ, mit dem Campillo schon bei seinem letzten Film Eastern Boys (2013) zusammenarbeitete. Dabei verliert der Film nie die Bodenhaftung und wird auch in keiner Weise zu einem Stilkonzentrat jener Zeit. Dass sich Setting, Kostüme oder Sound nicht klar vom Hier und Jetzt abgrenzen, ist denn auch politische Intention: Selbst wenn HIV und Aids heute behandelbar geworden sind, Einstellungen sich verändert haben und es sogar bald Impfungen geben soll, sieht die Realität so aus, dass sich bis heute alljährlich mehr als zwei Millionen neu anstecken und Millionen seit Jahren, mehr oder minder eingeschränkt, HIV-positiv leben. Nicht zuletzt auch daran möchte Campillo mit seinem mitreissenden 120 BPM erinnern.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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