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Dene wos guet geit

Cyril Schäublins Erstling berichtet von einer Welt, in der alle Daten fliessen, damit nichts sich regt. Wenn es dann doch zu einem kurzen Kontakt kommt, ist das umso explosiver.

Text: Johannes Binotto / 09. Jan. 2018

«Ich sehe zwar, wo wir sind, aber irgendwie kann ich keine Route eingeben», sagt der eine Polizist zum andern, während er auf sein Smartphone stiert. Die banale Feststellung, nur so dahingesagt, könnte auch als bündige Formel unserer digitalen Lebenswelt dienen: Die Kommunikationsapparate in unseren Händen, die ja immer auch Ortungsgeräte und Suchmaschinen sind, nutzen wir mit Vorliebe, nicht um andere an-, sondern um uns selber abzurufen. Ego-Google-Search und GPS-Lokalisierung sollen uns daran erinnern, wo und wer wir sind. Wie wir aber miteinander in Kontakt treten können, bleibt umso rätselhafter. Auf Orientierungstafeln im öffentlichen Raum sucht man jeweils jenen roten Punkt, über dem geschrieben steht: «Sie sind hier» – doch nur um von ihm ausgehend auf der Karte einen Weg woandershin zu suchen. Ein Orientierungspunkt ohne eine Angabe, wie man von ihm wegkommt, erweist sich hingegen als sinnlos. Immerzu sehen, wo man ist, ohne die Möglichkeit, eine Route einzugeben, ist das ultimative Gefängnis, mit uns selbst als unsere eigenen, mobilen Überwacher.

Das ist die Schweiz, wie sie uns Dene wos guet geit zeigt, eine Welt, in der alles reibungslos seinen Lauf nimmt und doch nie vom Fleck kommt. So fliesst auch in der ersten Einstellung ein Fluss von links nach rechts und dann doch, wegen eines Wirbels, auch von rechts nach links. Er fliesst zwar und bleibt trotzdem an Ort stehen. Dieses Bild wird wie alle folgenden Bilder in Cyril Schäublins brillantem Erstling als Allegorie lesbar, als präzises Denkbild, in dessen Gestaltung bereits eine komplexe Reflexion steckt. Nicht umsonst plaudert genau vor dieser Kulisse des zugleich fliessenden und stehenden Gewässers eine Mitarbeiterin des Zürcher Strafgerichts die Filmhandlung aus, bevor diese recht begonnen hat. Von einer Trickbetrügerin berichtet sie, die sich am Telefon bei alten Frauen als Enkelin in Geldnot ausgibt, ein Treffen arrangiert, bei dem sie dann das Geld mit der Behauptung, eine gute Freundin der Enkelin zu sein, an sich bringt. Das erinnere ihn an einen Film, meint einer, der die Geschichte hört. Der Titel freilich, fällt ihm nicht mehr ein, so wie alle Personen in diesem Film sich nur noch bruchstückhaft an das erinnern können, was sie mal gesehen haben. Freilich, der Film, an den sich der Mann hier erinnert fühlt, ist nicht zuletzt Dene wos guet geit selbst, der jetzt erst anfängt. Und doch sind wir damit auch schon auf der falschen Fährte, wenn wir glauben, im Folgenden einen Krimi zu sehen zu kriegen. An simpler Spannung und an kriminalistischen Fragen, wie wohl die Diebin ihre Verbrechen einfädelt und wie es der Polizei gelingen wird, diese aufzuklären, ist Schäublins Film nicht interessiert, vielmehr daran, wie sich der Diebstahl nahtlos in eine Welt einfügt, die nur noch aus Transfer besteht und sich dabei doch nicht rührt.

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Die Daten, die den Betrug überhaupt erst möglich machen, sammelt die Diebin bei ihrer Arbeit in einem Callcenter. Synergien nutzen, nennt man das wohl. Und so, wie der Wechsel der Krankenkasse oder des Internetanbieters, zu dem die Callcenter-Crew ihre Kunden überreden will, letzlich bedeutungslos ist, scheint auch die Entwendung und Verschiebung von Geld nichts zu bewirken. Statt das erschwindelte Vermögen in Genuss umzuwandeln, will auch die Diebin ihr Geld nur wieder auf das Konto einer Privatbank schieben. Alles fliesst, ohne Sinn und Ziel.

Wert scheint das Geld schon längst keinen mehr zu haben, es ist nur eine weitere Zahlenreihe, so wie all die Pin-Codes, Wifi-Passwörter, Versicherungsnummern und Medikamentenkürzel, die sich die Figuren in diesem Film zuraunen. Was bleibt, sind nur noch Koordinaten, denen die Referenz und damit jeder Sinn abhandengekommen ist: «Ich sehe zwar, wo wir sind, aber irgendwie kann ich keine Route eingeben.»

Auch die echte Enkelin hat mit ihrer Grossmutter so wenig zu tun wie die falsche. Es gibt eine Familie, weiss der Arzt im Altersheim des nächsten Opfers, aber sie ist schon lange nicht mehr zu Besuch gekommen. So wie in den verblüffenden Tableaus des Kameramanns Silvan Hillmann, in denen die Menschengruppen immer nur einen kleinen Bereich des Filmbilds besetzen, während vor allem der tote Raum um sie herum dominiert, ist in diesem Film Umgebung zwar immer präsent, aber als eine Abwesende. Zürich sieht aus wie San Francisco in Francis Fords Coppolas Überwachungsfilm The Conversation (1974): nicht mehr wiederzuerkennen. So fragt man sich auch ob dieser Überwachungsaufnahmen von Menschen vor Betonwänden, Glasfronten und Parkanlagen immer wieder, wo das sein könnte, und findet es doch nicht heraus. «Das erinnert mich an etwas …», denkt das Publikum und kommt nicht weiter. Der grosszügige Bildauschnitt macht Zusammenhänge nicht klarer, sondern kappt sie. Konsequent darum auch, dass Schäublin jegliche Herkunft seiner Figuren abgeschnitten hat. Die Route, über die die Betrügerin zu jenem Punkt gekommen ist, an dem sie sich jetzt befindet, kann nicht mehr abgerufen werden. Genauso wenig weiss die Grossmutter, wo sie herkommt und wo sie hinwill. Sie möchte jetzt nach Hause, sagt sie dem Pfleger, und dieser antwortet, er bringe sie auf ihr Zimmer, was offenbar auf dasselbe hinausläuft. «Wer sitzt dort drüben?», hatte sie kurz vorher gefragt. «Dort sitzt niemand», war die Antwort. Stattdessen hält man ihr ein Tablet vors Gesicht, auf dem sie Bilder erkennen soll, die wir Zuschauer nicht zu sehen bekommen. Die Antwort kommt fragend: «Ein Haus?» Und der Pfleger fragt zurück: «Ein Haus?» Sicher sind sich offenbar beide nicht. Der Sinn entgleitet einem; was bleibt sind Displays und leere Stühle.

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Statt Figuren mit Psychologie und Herkunft auszustatten, wie es unsere Filmschulen und Fördergremien gerne haben, damit das Resultat schön gefühlig wird, berührt Dene wos guet geit gerade durch seinen Verzicht. Schon die Laufzeit seines Films ist mit nur 71 Minuten lakonisch knapp und wirkt damit umso länger nach. Grossaufnahmen, wo sie denn vorkommen, signalisieren hier nicht mehr die stereotypen grossen Gefühle, sondern viel erschütternder, den hoffnungslosen Versuch, sich daran zu erinnern, was da an Affekten mal war. Doch als der Pfleger im Altersheim aufsteht und davongeht, sich bereits abwendet und noch desinteressiert zur alten Frau sagt: «Sie haben es gut gemacht», da berührt er sie mit der Hand an der Schulter. Sie wird später, als er schon weg ist, nochmals an diese Stelle fassen, als sollte die Berührung gespeichert werden. Es ist das einzige Mal in diesem Film, dass Körper sich tatsächlich berühren, abgesehen vom Händeschütteln, wenn die Betrügerin ihr Geld in Empfang nimmt. Wo sonst nur Medien einander weitergereicht werden, Kugelschreiber und Mobiltelefone, und selbst der Portier in der Privatbank Handschuhe trägt und nur einmal sich selbst streichelt, kommt den seltenen Momenten, in denen physischer Kontakt stattfindet, umso mehr Bedeutung zu. Auf den Sicherheitsgeräten, auf die die Angestellten ihre Hand auflegen müssen, bleibt die Kamera immer noch ein bisschen länger als nötig, als müssten auch wir uns diese subtilen Momente der Berührung einprägen. Werden Geldtransfer und Datenübertragung als Funktionen gezeigt, um Kontakt gerade nicht zu ermöglichen, sondern zu unterbinden, erweisen sich die kurzen Augenblicke, in denen Berührung stattfindet, als explosiv. Verbindungsrouten werden aufgerissen, wo vorher nur Stillstand war.

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Das erinnere sie an einen Film, sagt die Polizistin am Ende, in dem eine Bombe in einer Bank explodiere und all die Geldscheine und Wertpapiere, die ganzen Übertragungsmedien in die Luft fliegen: «Mega krass!» Vielleicht haben wir insgeheim genau diesen Film gesehen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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