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Brigitte Broch

Brigitte Broch, Oscar-prämierte Production Designerin (Moulin Rouche), kam als Quereinsteigerin zum Film. Ihre frühesten Erfahrungen sammelte sie mit Filmen ihrer Wahlheimat Mexiko, wo sie mit Regisseuren wie Guillermo del Toro, Alfonso Cuarón und immer wieder Alejandro González Iñárritu zusammenarbeitet. Im Interview gibt sie Einblick in ihre Arbeit und spricht offen über ihre Erfahrungen und Krisen im Filmgeschäft.

Text: Donna Hanisch / 13. Juni 2012

Donna Hanisch Viele Filmschaffende, vor allem auch im Bereich der Ausstattung, sind, wie Sie, Quereinsteiger. Wie sind Sie zum Film gekommen?

Brigitte Broch Aus reiner Frustration. Ich war immer auf der Suche, wusste nur, dass ich bloss nicht Sekretärin oder etwas dergleichen werden wollte. Und doch wurde ich Sekretärin, da ich mit meiner Familie unter sehr bescheidenen Verhältnissen aufwuchs und wir das Geld brauchten. Nach Feierabend besuchte ich jedoch Theater- und Ballettklassen.

Auch in Mexiko arbeitete ich zuerst als Sekretärin und Lehrerin für Deutsch und Englisch. Ich war beruflich immer noch sehr unzufrieden, wusste nicht, ob ich studieren sollte, und wenn ja, was. Ich begann in dieser Zeit, in kleineren Theaterproduktionen mitzuspielen. Bei einer solchen lernte ich den mexikanischen Regisseur Luis Mandoki kennen, der für das «Instituto Nacional Indigenista INI» Dokumentarfilme realisierte, und er bot mir an, dort mitzuarbeiten. So machte ich 1980 die Produktionsleitung für eine achtzehnköpfige Theatergruppe. Danach wurde ich für die Produktion weiterer Filme dieses Instituts gebucht. Dass man mich gerne einstellte, ist wohl meiner deutschen Gründlichkeit und Pünktlichkeit zu verdanken. Danach arbeitete ich für das mexikanische Bildungsfernsehen, produzierte selber Beiträge und konnte sogar Regie führen. Ich hatte damit viel Erfolg und bekam dadurch die Aufnahmeleitung für «Musik zum Sonntag», eine deutsche TV-Produktion.

Danach entschloss ich mich, nach fünfzehn Jahren Mexiko mir doch wieder mal Deutschland anzusehen. Ich hatte 1968 Deutschland mit grosser Verachtung verlassen. Das ging so weit, dass ich mich in Mexiko anfangs weigerte, Deutsch zu sprechen. Ich sprach nur noch Englisch, bis ich genug Spanisch konnte. Doch nach neun Monaten in Deutschland, in denen ich feststellte, dass es dort gar nicht mehr so schlimm war und es auch viel Schönes gab, entschloss ich mich, wieder nach Mexiko zurückzukehren. Was ich aber auch lernte war, dass ich mit der Produktion eigentlich nichts am Hut hatte. So habe ich zuerst mal einfach nur Theater gemacht, als Schauspielerin. Ich bin mir selbst dankbar, dass ich das gemacht habe, weil die Erfahrung beim Theater heute eine meiner Fundgruben für meine Arbeit als Production Designerin ist. Verstehen, was es heisst, eine Rolle zu spielen, hilft mir nun sehr bei meiner Arbeit. Ich weiss, was es braucht, damit sich ein Schauspieler in einem Dekor sofort wohlfühlt. Selbst mit Dingen, die nicht sichtbar sind. Zum Beispiel fülle ich immer alle Schubladen eines Möbels, auch wenn sie im Film nicht bespielt werden. Weil es für mich das Wichtigste ist, dass der Schauspieler sich frei bewegen kann. Dass er in den Raum kommt und denkt, «ach, das bin ich, das sind die Socken, die ich trage» oder «ich bin wirklich ein schmuddeliger Typ».

1985 bin ich als Stage Manager mit der mexikanischen Theatertruppe «Divas» und ihrem erfolgreichen Stück «Donna Giovanni» durch Europa und die Vereinigten Staaten getingelt. Bei dieser Produktion habe ich auch sehr eng mit der Kostümbildnerin zusammengearbeitet. Diese bekam 1987 das Angebot, bei einem Doku-Drama über den Schriftsteller Graham Greene das Design zu machen. Sie hatte aber keine Lust, und so sprang ich für sie ein. Ich hatte zwar kaum eine Ahnung davon, was ich wirklich zu tun hatte, aber ich hatte eine Tochter zu unterhalten und brauchte dringend Geld. Es war ein Film über die Zeit, 1938, als Graham Greene nach Mexiko kam. Er war 1926 zum Katholizismus übergetreten und wollte sehen, wie entsetzlich die Mexikaner die Priester und Gläubigen behandelten.

Ich kam also in dieses verschlafene Dörfchen, in dem Graham Greene in einem Bananenboot angekommen war und von wo aus er nach San Cristobal weiterreiste.

Ich war wie vom Blitz getroffen, so phantastisch fand ich meine Aufgabe. Ich habe Räume streichen lassen, Farben wählen dürfen, ich hatte Leute aus dem Dorf dafür. Ich war so fasziniert, dass ich gar nicht merkte, dass ich achtzehn Stunden pro Tag arbeitete. Ich hatte alle Sets vor Drehbeginn fertig, was auch dem Umstand zu verdanken war, dass in dem Dorf die Zeit stehen geblieben war. Es gab Deko-Möbel in fast allen Wohnungen. Ich brauchte kein Requisitenhaus, es war alles vorhanden in dem Dorf.
Das war ein so durchschlagender Erfolg, dass ich danach sofort Angebote bekam. Der nächste Film war Fat Man and Little Boy von

Roland Joffe; da war ich Dekorationsassistentin. Von da ging ich nach Baja California für ein Road Movie für das deutsche Fernsehen und so weiter.

Da ich fast keine Vorkenntnisse hatte, war jeder Film ein “Durchbeissen”. Erfahrung sammeln, Erfahrung sammeln, Erfahrung sammeln. Ich erinnere mich, dass der bayerische Regisseur der deutschen TV-Serie «Auf Achse» nach Drehschluss zu mir sagte: «Ja, Brigitte, du hast ja einige Fehler gemacht, aber schliesslich und endlich beglückwünsche ich dich.»

Filme zu produzieren ist ein in time-Geschäft. Ich nehme an, dass Sie auch deshalb in Mexiko einen Vorteil hatten, weil Sie es sich gewohnt waren, Termine einzuhalten, und zuverlässig waren?

Ja, das hat mir sehr geholfen. Die Sachen sahen immer korrekt und gut aus. Es gab Dekorateure, es gab Bühnenbildner, die nicht miteinander kommunizierten. Ich war anscheinend die erste, die das vereinte. Ich kümmerte mich um alles. Am Anfang natürlich in Miniteams. Wir haben jeweils bis tief in die Nacht gearbeitet. Da die Industrie auch in Mexiko sehr in sich geschlossen ist, wurde ich weitergereicht und traf so zum Beispiel auch den damals achtundzwanzigjährigen Alfonso Cuarón, mit dem ich 1990 seinen ersten Film Solo con tu pareja machte.

Sie haben die Erstlingsfilme von Guillermo del Toro, Alfonso Cuarón und Antonio Serrano gemacht …

… und auch Alejandro González Iñárritu, mit dem ich lange vor Amores perros Werbefilme gemacht habe …

… und waren auch auf den nachfolgenden Projekten dieser später sehr erfolgreichen Regisseure tätig.

Ich hatte das grosse Glück, zur richtigen Zeit in Mexiko zu sein: Das ganze Terrain des Production Designs war damals in Mexiko noch leer und hiess auch noch gar nicht Production Design. Und da kommt diese Deutsche, beisst sich da durch und macht es irgendwie richtig. Die Zusammenarbeit mit all diesen jungen mexikanischen Regisseuren war toll. Aber grundsätzlich bereicherten mich am meisten jene Projekte, die mich in die verschiedensten Winkel von Mexiko und in andere Länder führten. Ich drehe nicht gerne in Mexico City. Ich mag es, raus zu gehen aufs Land oder sogar in ein anderes Land, mich rein zu versetzen in die neue Kultur, in dieses neue Leben, und dort zu recherchieren.

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Sie haben bei sehr vielen mexikanischen, aber auch internationalen Filmen gearbeitet. In ihrer Art stechen die beiden Filme Romeo & Juliet und Moulin Rouge von Baz Luhrmann aus Ihrer Filmografie heraus, weil sie so opulent und vielschichtig sind. Wie kam es zur Zusammenarbeit?

Das war auch wieder Glück. Ich hatte auf einer Produktion, aus der ich ausgestiegen bin, den australischen Art Director Doug Hardwick kennengelernt. Er hat den Kontakt aufrecht erhalten. Als er für Romeo & Juliet als Art Director angestellt wurde, schlug er mich der Production Designerin Catherine Martin als Set Decorator vor. Zwischen Catherine und mir stimmte die Chemie sofort. Ich bekam sehr wenig Lohn, aber es machte mir nichts aus, denn ich lernte so viel. Die Phantasie, mit der Baz und Catherine diese Sets entwarfen, dieser Wahnsinn, diese Mischung aus leicht futuristischer Vergangenheit – da konnte ich alles machen, und es konnte eigentlich nichts schief gehen. Das war unglaublich befreiend.

Wie verlief die Zusammenarbeit mit Baz Luhrmann und Catherine Martin genau? Sie war ja zugleich die Kostümbildnerin, und er war auch noch in das Production Design involviert.

Baz segnete alles ab. Catherine und ich haben jeden Vorschlag für die Set Decoration wie Fotografien, Zeichnungen, Stoffe et cetera mit Baz besprochen. Es gab nichts, was er nicht abgesegnet hatte. Das Gute daran: keine Überraschungen, wenn der Regisseur auf das Set kommt. Kein «Oh Gott, das habe ich mir nicht so vorgestellt.» Das war für mich eine Lehre! Seither bereite ich alle Arbeiten so vor, dass sie zu hundert Prozent von der Regie abgesegnet sind. Mit Concept Drawings, Farbmustern et cetera, vor allem was die Stimmungen betrifft. Diese Moodboards sind ganz wichtig, damit Kamera und Regie empfinden können, wie das Set sich licht- und farbenmässig anfühlen wird.

Dies braucht eine grosse Vorbereitung und verlangt auch von der Regie, dass ihr das Production Design des Films sehr wichtig ist und sie sich viel Zeit dafür nimmt.

Bisher hat dies immer gut geklappt. Seit ich nach diesem System arbeite, kann ich immer alle Regisseurinnen und Regisseure glücklich machen. Alle Diskussionen finden in der Vorbereitungszeit statt, und beide Seiten gehen, was das Production Design betrifft, nicht mehr mit Herzklopfen an ein Set.

Zusammen mit Catherine Martin haben Sie für Moulin Rouge einen Oscar gewonnen. Was war das für ein Gefühl?

Da ich mich lange Zeit damit schwer getan habe, mich überhaupt Production Designerin zu nennen, konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass mir das passiert. Als ich meinen Namen hörte, erschrak ich. Ich stürzte fast die Treppe hoch. Für mich ist die ganze Sache mit den Auszeichnungen ein grosser Schmu. Es steckt viel Politik dahinter. Ich habe mir deshalb weder aus den mexikanischen Preisen noch aus anderen Auszeichnungen etwas gemacht – auch nicht aus dem Oscar. Aber dann musste ich natürlich feststellen, dass der Gewinn eines Oscars vor allem Arbeit bringt, und man wird besser dafür bezahlt.

Der Oscar für Production Design wird immer im Doppel verliehen.

Ich dachte lange: «Das ist nicht mein Verdienst, das ist das Verdienst von Catherine.» Aber mittlerweile weiss ich auch, dass das nicht stimmt. Mir ist aber klar, dass ich ohne mein Team absolut Nichts bin, ohne einen guten Set Decorator, einen guten Art Director und alle anderen Mitglieder des Ausstattungsteams. Mein Auge richtet sich sehr auf Set Decoration (Set Dec). Ich kenne mehrere Production Designer, die mit Set Dec nichts anfangen können, und deshalb funktioniert auch die Kommunikation zwischen Production Designer und Set Dec nicht gut. Meiner Meinung nach sieht man das hinterher dem Film an. Da ist keine Liebe zum Detail drin.

Kommen wir zum Ausstattungsteam: Wie setzen Sie Ihr Team zusammen?

Für mich ist es das Wichtigste, einen guten Set Decorator zu haben. Als Set Dec brauche ich eine kreative Person, die mitarbeitet, mitdenkt, Vorschläge macht und meine Ideen kritisch betrachtet. Regie und Kamera fragen mich ja auch, weshalb ich etwas so oder anders machen will, oder sagen es, wenn ihnen etwas nicht passt. Ich möchte aber auch von meinem Team in Frage gestellt werden, von ihnen alternative Vorschläge kriegen. Man kreiert auch dadurch ein gutes Team: wenn sich jeder einbezogen fühlt, als ein mitdenkendes Individuum.

Bei einem ausfinanzierten Projekt hat der Set Dec zwei Assistenten, und jeder Assistent hat wieder zwei Swings (Helfer). Je nach Aufwand eines Projekts kommen noch mehr Helfer dazu. Die Sachen, die die Set Dec aussucht, werden von den Assistenten und Swings abgeholt und in die Lagerräume gebracht. On Set Dresser beziehungsweise On Set Props (Set-Requisite) sind verantwortlich für alle Handrequisiten und das Arrangieren der Gegenstände während des Drehs. Er hat eine unheimliche Verantwortung, und ich muss ihm vertrauen können. In der ersten Drehwoche bin ich deshalb eigentlich die ganze Zeit am Set und überwache die Handlungen des On Set Dressers. Bis ich sicher bin, dass diese Person es gut macht. Es ist wichtig, dass diese Leute immer auch durch die Kamera gucken und sich vergewissern, dass das Bild so in Ordnung ist.

Es ist auch ausserordentlich wichtig, das Set Dec und Requisite richtig miteinander kommunizieren. Wenn nicht vorher abgeklärt wird, wer was organisiert, geschehen Fehler, und plötzlich steht man da, und es fehlt ein wichtiges Requisit. Wenn es einen Coordinator gibt, muss er wissen, wer was organisiert und wer worüber verfügt. Dann ist natürlich ein guter Art Director sehr wichtig. Er hat die Kontrolle über das Budget, macht die Arbeitspläne, überwacht den Bau, stellt das Team von Malern, Elektrikern, Maurern et cetera zusammen. Der Art Director macht die Kostenkontrolle, aber auch ich schaue mir diese mindestens einmal die Woche an. Da müssen alle Auslagen pro Department aufgeführt sein, das heisst Auslagen von Set Dec, Auslagen Requisiten, Auslagen Baubühne. So kann ich sehen, bei welchen Sets wir schon über dem Budget sind und wo wir noch Reserve haben. Da ich nicht weiss, was die Materialien im Detail kosten, bin ich auf die Berechnungen des Art Directors angewiesen. Alle machen ihre eigenen Budgets und geben diese dem Art Director. Das gesamte Budget wird mir vorgelegt, ich segne es ab und muss vor der Produktion geradestehen, falls es überzogen wird. Ich treffe die kreativen Entscheidungen oder segne diese ab, falls wir an einem Dekor aus Budgetgründen grössere Abstriche machen müssen, um das Geld für ein anderes Dekor zu benutzen.

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Die Produzenten sind ja so clever, dass sie nicht sagen, was die höchste Budgetlimite für die Ausstattung ist. Sie hoffen immer, dass man das Budget nicht ausreizen wird.
Wenn ich ein Ausstattungsbudget auf zum Beispiel eine Million schätze, verwirft der Produzent die Hände und sagt, er habe nur 500 000 für die Ausstattung im Budget. Und dann fängt der Kuhhandel an. Und wenn es ganz schlimm wird, sag ich einfach, «talk to the director». Die Regie will immer alles haben, und das auch im Laufe der Vorbereitungen. Deshalb ist es sinnvoll, im Geheimen eine Reserve zu haben. Zum Beispiel weiss ich, ich habe im Budget beim Posten Grafik zu viel angegeben. Dies kann ich dann verwenden. Weiter halte ich mich normalerweise ans Budget, was den Produktionen natürlich gefällt. Ein Regisseur kann schon einen Production Designer vorschlagen, aber wenn dieser bei den Produzenten einen schlechten Ruf hat, wird er nicht angefragt. Vor allem in den USA haben die Produzenten einen sehr grossen Einfluss, so dass sie dem Regisseur vorschreiben können, wen er in seinem Team haben kann. Man sollte darum immer versuchen, sich mit den Produzenten gut zu verstehen. Den Produzenten geht’s oft nur ums Geld. Oftmals haben sie keinen Sinn für das Kreative und sehen den Zweck gewisser Auslagen im kreativen Bereich nicht ein. Wenn es zu Reibungen kommt, sage ich, der Produzent soll das mit der Regie klären.

Oft ist es so, dass die Regie etwas verlangt, und der Szenenbildner sitzt in der Tinte, weil er diese Doppelverpflichtung hat: auf der einen Seite dem Produzenten gegenüber – das Budget muss eingehalten werden –, auf der anderen der Regie gegenüber – man muss ihr alle Möglichkeiten bieten, die sie braucht. Wie gehen Sie damit um?

Oft sind es auch meine eigenen Wünsche, und für die kämpfe und verhandle ich selber mit dem Produzenten. Zusammen mit meinem Team überlege ich mir, wenn nötig, was es für billigere Alternativen gibt. Nehmen wir einen billigeren Stoff? Betreiben wir weniger Aufwand, sprich geringere Auslagen in einer weniger wichtigen Szene? Können wir die Möbel selber machen? Wie würde das aussehen? Ich versuche also, die Wünsche des Regisseurs möglich zu machen. Falls es mir aber innerhalb meines Budgets, innerhalb meiner Möglichkeiten nicht möglich ist, so muss die Regie direkt bei der Produktion dafür kämpfen.

Sie haben als Production Designerin auf einem Projekt zugesagt. Wie gehen Sie an das Projekt heran?

Ich lese natürlich das Drehbuch mehrmals durch. Ich habe eine Unmenge von Foto- und Kunstbüchern zu Hause. Sobald ich ein Script kriege, gehe ich durch die Bücher und gehe dann auch in Bibliotheken, in Buchhandlungen. Ich suche nach geeigneten Stimmungen in Räumen und Darstellungen von Figuren in gewissen Stimmungen. Ich habe mittlerweile auch eine ganze Sammlung von Referenzen auf meinem Computer. Wenn ich Location Scouting (Reko) mache, fällt mein Blick immer auf Hausmauern und andere Wände, von denen ich Fotos mache. So habe ich viel Bildmaterial, auch von Aging (Patina), das ich zur Diskussion verwenden kann.

Daneben erstelle ich eine Analyse der Charaktere aller Hauptdarsteller und der wichtigen Nebenfiguren. Das heisst, ich kreiere eine Backgroundgeschichte fast von Geburt an. Ich stelle mir vor, unter welchen Umständen die Figur aufgewachsen ist. Die Auswahl der Farben entsteht immer durch die Analyse der Figuren.

Wie entscheiden Sie sich für ein Farbkonzept?

Es gibt ja unglaublich viele Farbtheorien, spirituelle, mystische, technische. Meine Bibeln sind die beiden Bücher «I Colori» und «La Luce» des italienischen Kameramanns Vittorio Storaro. Seine Farbtheorien sind für mich sehr inspirierend. Es ist nicht so, dass ich seine Theorien als die Wahrheit ansehe. Ich nehme seine Theorien, vergleiche sie mit meinen Erfahrungen, und dann sagt mir in der Regel der Bauch, was zu tun ist. Es ist mir sehr wichtig, die richtigen Farbnuancen zu finden, damit es nicht einfach blau oder grau ist, oder dass es nicht durchgehend blau ist. Die Farbwahl hängt vom Thema und den Figuren des Films ab. Bei Biutiful wollte ich die Hauptfigur Uxbal in einer Welt sehen, die mit seinem Inneren übereinstimmt. Der Mann ist sehr wütend und verbittert. Sein Leben ist schwer. Darum fiel meine Wahl auf Grau-Blau-Töne.

Was sind die wichtigsten Informationen, die Sie sich von der Regie holen?

Ich quetsche die Regie nach den Figuren aus. Was hat sie sich gedacht? Wie will sie ihre Figuren sehen? Und ich will wissen, welche visuellen, farblichen Vorstellungen die Regie selber hat. Wenn ich mit Alejandro González Iñárritu arbeite, ist sein Kameramann Rodrigo Prieto bei diesen ersten Gesprächen auch schon dabei. Rodrigo und ich bringen gewöhnlich Fotobücher als Referenz mit. Wir besprechen dann zu dritt Motiv um Motiv und sprechen über die idealen Locations, die gefunden werden müssen.

Suchen Sie selber die Locations?

Ja, das ist mir sehr wichtig. Normalerweise bekomme ich bei einem Film drei Monate Vorbereitungszeit, in denen ich auch die Locations suche. Nach den ersten Gesprächen mit Regie und Kamera werden die Location Scouts losgeschickt.

Wie wählen Sie die Location Scouts aus?

Wo immer man dreht, fragt man grundsätzlich nach den besten Location Scouts, die es gibt. Man ist so auf diese Leute angewiesen. Es ist sicher auch sinnvoll, mehr als einen Location Scout einzusetzen, um die ideale Location zu suchen. Es kann natürlich gut sein, dass keine der Locations, die in einem ersten Schritt von den Location Scouts vorgeschlagen wurden, funktioniert, aber zumindest hat man dann eine konkrete Grundlage für die Diskussion. Man erklärt dem Location Scout, weshalb diese Location nicht funktionieren wird. Vor allem bei historischen Filmen kommt es oft vor, dass die Scouts zwar ein passendes historisches Gebäude finden, aber das Drumherum nicht beachten und nicht daran denken, dass es Möglichkeiten geben muss, auch die Umgebung zu filmen. Ein guter Location Scout hat eine Ahnung von Kultur und eine gute Allgemeinbildung, das heisst, er kann sich etwas vorstellen, er weiss etwas über die Epoche, versteht, was architektonisch richtig ist und was nicht. Ich mache eine Vorauswahl aus den Vorschlägen der Location Scouts, und zusammen mit Regie und Kamera besichtige ich diese möglichen Drehorte. Ich kämpfe immer für die richtige Location. Wenn sie der Regie oder der Kamera nicht gefällt, mache ich ad hoc Vorschläge, was man an der Location ändern, verbessern könnte. Sobald wir eine Location gefunden haben, setze ich mich mit dem Concept Artist zusammen.

Welche Informationen erhält der Concept Artist von Ihnen?

Er erhält alle relevanten Informationen aus allen Recherchen, mein Farbkonzept und natürlich die Location-Fotos. Er erstellt die Concept Drawings, die dann als Grundlage für alles dienen. Für mich ist der Concept Artist eine ganz wichtige Person geworden. Selbst wenn bei einer Produktion nur ein kleines Budget vorhanden ist, bestehe ich immer auf Concept Drawings. Der Concept Artist muss dann halt noch eine andere Arbeit, etwa die Erstellung der Grafiken, übernehmen, damit die Produktionsleitung einverstanden ist. Als Kommunikationselement sind die Concept Drawings für mich unersetzlich geworden. Sie helfen mir und allen anderen, bildlich zu sehen, wie ein Motiv farblich und von der Stimmung her wirken wird.

Wie kommunizieren Sie grundsätzlich mit Ihrem Team?

Am Anfang spreche ich mit dem ganzen Team, gebe ihnen die Informationen weiter, die ich bei Regie und Kamera gesammelt habe. Es ist mir wichtig, dass sich jeder im Team mit eingeschlossen fühlt. Dann beginnt die Recherche. Ich recherchiere weiter, Set Dec macht Recherche, die Requisite macht Recherche. Wir halten uns jedoch gegenseitig auf dem Laufenden. Danach versuche ich, einmal in der Woche ein Gespräch mit allen zu haben. Es ist ganz wichtig, dass sich vor allem Set Dec und Requiste austauschen, der Art Director hört mit, und ich sehe dabei zudem, ob die Kommunikation klappt. Es geht darum, dass alle an denselben Strängen ziehen. Danach bespreche ich mich mit den Einzelnen und delegiere die Aufgaben. Aufgrund meiner Ideen und Vorstellungen sucht die Set Dec schon Stoffe, Möbel et cetera aus. Und obwohl mir die Set Dec von allen Requisiten und Dekorteilen Fotos gezeigt hat, gehe ich immer in die Lagerräume, um mir alles real anzusehen. Dort mache ich nochmals eine Auswahl.

Wie sieht für Sie die ideale Zusammenarbeit mit der Kamera aus?

Eine gute, transparente Kommunikation ist entscheidend. Die Zusammenarbeit mit Rodrigo Prieto ist wunderbar. Da wird wirklich alles besprochen. Ich mache Farbproben, auch bezüglich der Agings, und Rodrigo macht Kameratests von den Wänden jedes Sets, ich hänge die Stoffe dazu. Rodrigo arbeitet gerne mit grobkörnigem Filmmaterial. Kameratests sind darum sehr wichtig, weil sich die Farbtöne aufgrund des gewählten Filmmaterials verändern. Bei einem Studiodreh lasse ich ein Modell der Location bauen, damit die Kamera sehen kann, wo Licht von aussen hineinkommt, welche Wände verschiebbar sind. Ich sorge vor, indem ich so viele Practicals (Requisiten: Tischlampen, Stehlampen, Wandlampen) wie möglich zur Verfügung habe, um auch auf die spontanen Wünsche der Kamera reagieren zu können. Selbst die Lampenschirme versuche ich in der Vorbereitung der Kamera zu zeigen. «Sind sie zu hell? Sind sie dunkel genug?»

Ich bin grundsätzlich sportlich, wenn die Kamera oder die Regie etwas anderes wollen als ich. Ich kämpfe für meine Vorstellungen, aber ich kann damit leben, wenn ich damit nicht durchkomme.

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Drehen Sie lieber in einem realen Motiv oder im Studio?

Ich habe eine ganz klare Präferenz für Realmotive. Für mich haben reale Locations eine Seele. In realen Locations kann man das Leben spüren und riechen. Auf dem Fussboden, an den Wänden. Bei einer realen Location kann man zum Beispiel schon gewisse Agings übernehmen. Man findet kleine Unebenheiten, Ungereimtheiten, die das Ganze so echt machen, Fenster, die nicht richtig schliessen, die Ecke, die keinen Sinn macht … Es gibt so viele Details, die spannend sind. Dies in einem Studiobau zu reproduzieren ist eine Wahnsinnsarbeit. Und oft kommt man auf solche Details gar nicht, wenn man baut.
Meine Sets sind gewöhnlich sehr realistisch. Meine ganze Kunst besteht darin, die Realität zu kopieren und dann die persönliche Note der jeweiligen Figur hereinzubringen.

Reale Locations sind aber oft sehr eng für das Team und beschränken die Bewegungsfreiheit der Kamera. Wie lösen Sie das Problem?

Ich bin Expertin im Wände raushauen geworden. Vor allem bei den Filmen von Alejandro González Iñárritu musste ich dauernd irgendwelche Wände rausschlagen lassen. Ich bin unterdessen die Production Designerin, «who knocks down any wall».

Wie sieht die Zusammenarbeit mit dem Kostüm aus? Übernimmt der Kostümbildner Ihre Farbvorstellungen?

Im Zeitpunkt, zu dem ich mit der Kostümabteilung rede, ist es eigentlich klar, was der Regisseur will, und ich bringe hauptsächlich meine Farbpalette ein. Ich gebe dem Kostüm die Concept Drawings, wo die Farbenwahl schon integriert ist, und ich zeige ihm die Fotos der Sets. Es ist sehr wichtig, dass Production Design und Kostüm die gleiche Linie verfolgen, sonst geht diese Message verloren. Ideal ist, wenn ich bei der Kostümabnahme mit der Regie dabei bin.

Kostümbildner müssen sehr viel über Klischees nachdenken, wenn sie die Kostüme einer Figur kreieren. Ist es beim Szenenbild ähnlich? Wenn Sie es zum Beispiel mit der Figur eines bösen Bankers zu tun haben: Empfinden Sie es auch so, dass einem manchmal die Hände gebunden sind, lustvoll was Eigenes zu kreieren, weil das Klischee die Erwartung des Zuschauers bestimmt?

Das stimmt, aber das Klischee kann die Grundlage sein, auf die man aufbaut. Dann kommt das spezifisch Persönliche hinzu, welches jeder Mensch hat. Der eigene Lebenslauf. Fotos von Angehörigen, ein Hobby, das sich irgendwo im Dekor widerspiegelt. Irgendwo findest du auch die Person, die dahinter steht, hinter dieser Formalität, hinter dem Klischee. Natürlich, wenn es der konventionelle Banker ist, kriegt er die konventionellen Möbel. Aber du denkst darüber nach, ob die Möbel braun, grün oder rot sind, abgenutzt oder brandneu.

Die Intuition scheint für Sie sehr wichtig zu sein.

Ja, ich vertraue meiner Intuition. Es ist mir wichtig, dass ein Set zeitlich so fertig wird, dass ich noch Zeit habe, mich hineinzusetzen, das Set spüren und – wenn ich im letzten Moment merke, dass etwas nicht stimmt – noch eingreifen und etwas verändern kann. Es ist natürlich Luxus, wenn man die Zeit hat, nochmals ins Set zu sitzen und darüber nachzudenken. Es gibt auch Regisseure wie Alejandro González Iñárritu, die unbedingt mit ihren Schauspielern im fertigen Set proben wollen. Damit Schauspieler ihre Welt kennenlernen können. Wie gesagt, wo immer eine Schublade ist, wo immer ein Türchen ist, da ist was drin oder dahinter.

Welche Filmprojekte oder Regisseure waren oder sind für Sie besonders bereichernd?

The Reader von Stephen Daldry war für mich die grösste persönliche Herausforderung. Als die Anfrage kam, zögerte ich, weil ich meine eigene dramatische, traumatische Erfahrung mit Krieg und Ende Krieg gehabt habe. Trotzdem bin ich nach New York geflogen und habe in Stephen Daldry einen wunderbaren Regisseur und Menschen getroffen. Wir haben stundenlang miteinander gesprochen, auch darüber, wie schwer es einerseits sein würde, diesen Film zu machen, weil ich von der Auseinandersetzung mit diesem Thema immer weggelaufen bin. Aber anderseits sah ich darin eine Chance, über mein eigenes Trauma hinwegzukommen. Mein Auswandern nach Mexiko hatte viel damit zu tun, das Land Deutschland zu verlassen, welches über seine Schuld nicht reden wollte. Und die ganzen Kriegserfahrungen, die in einer Familie hängen blieben, haben mich weggetrieben. Ich schaute mir in den ersten fünfzehn Jahren in Mexiko weder fiktionale noch dokumentarische Filme zum Holocaust an. Ich fühlte mich schuldig für die Generation meiner Eltern. In dem Sinne war ich ein sehr gebranntes Kind, und für mich war es eine wahnsinnige Herausforderung, mich bei The Reader mit all dem wieder auseinandersetzen zu müssen, mich mit einem Thema zu befassen, von dem ich mein ganzes Leben lang davongelaufen war. Ich habe dann in Berlin Konzentrationslager besuchen müssen, habe mir alle fotografischen Dokumente, Dokumentarfilme der Alliierten zu jener Zeit angesehen. Schliesslich bin ich sehr dankbar, dass ich diesen Film machen konnte, und die Zusammenarbeit mit Stephen war sehr gut.
Und dann ist natürlich die Zusammenarbeit mit Alejandro González Iñárritu für mich das Bereicherndste. Alejandro und ich teilen unsere Präferenz für Realmotive und “tiefe” Geschichten. Alejandro ist einerseits sehr weltlich, aber er hat auch eine spirituelle Seite, die man auch in seinen Filmen spürt. Er möchte die Tragödien der Menschen zeigen, sie aufwühlen und weiterbringen. Auch die Zusammenarbeit mit Rodrigo Prieto ist so wunderbar, dass ich ihn am liebsten immer als Kameramann hätte. Alejandro, Rodrigo und ich sind ein Triumvirat. Wir vertrauen und respektieren uns sehr, wir haben eine Arbeitsbeziehung von siebzehn Jahren, wir kennen uns sehr gut. Mit Alejandro zu arbeiten ist eine mentale und physische Anstrengung sondergleichen. Er fordert von allen so viel, dass es einen wirklich an die Grenzen bringen kann. Er fordert aber auch von sich das Beste und gibt alles, bis zum körperlichen Zusammenbruch. Und obwohl auch ich wegen dieser enormen Anstrengung ein paar Mal im Krankenhaus gelandet bin, muss ich sagen: Ich bin dankbar, dass ich durch eine solche Schule habe gehen dürfen, weil ich so wirklich gelernt habe, auf alles zu achten und das Beste zu geben. Durch seine Anforderungen hat er so viel aus mir herausgeholt. Ich hasse ihn zwar dafür manchmal während der Produktion, während der Zeit, in der er aufbraust und nur fordert und fordert. Trotzdem hoffe ich, dass ich auch auf seinem nächsten Projekt dabei bin, denn «One becomes addicted to Alejandro González», weil da soviel Leidenschaft und Kreativität ist.

Wer sagte das? Goethe? «Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust?» Ich glaube, das ist bei Alejandro der Fall. In ihm kämpfen Faust und Mephisto miteinander. Alejandro hat soviel Sensibilität, er hat soviel Gutes, er ist belesen, er ist kultiviert, witzig. All das, was man von ihm bekommt, ist so bereichernd, dass man in Kauf nimmt, psychisch und physisch so viel von sich zu geben.

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Wenn Sie an Ihr Leben vor dem Film zurückdenken: Gibt es unter den früheren beruflichen und menschlichen Erfahrungen und Erlebnissen Dinge, die Sie für Ihre jetzige Arbeit brauchen können?

Ja. Durch meinen Grossvater, der Maler war, lernte ich die Farben kennen. Auch meine Mutter war sehr kreativ. Wir wohnten in bescheidenen Verhältnissen in einer sehr kleinen Wohnung, aber meine Mutter hatte immer eine Idee, wie sie die Wohnung durch Umstellen der immer gleichen Möbel und Sachen neu gestalten konnte. Mein im Krieg verstorbener Onkel war ein ausgezeichneter Akkordeonspieler. Auch ich spielte Akkordeon. Und diese Beziehung zur Musik hat mir später im Theater geholfen. Und mein ehemaliger Mann war Grafiker und Fotograf. Ich habe ihn auf vielen Reisen begleitet und bin dafür sehr dankbar, denn das hat mein Auge geschult; das Sichten von Hunderten von Fotos mit ein und demselben Motiv und sich dann für das Beste entscheiden, definieren müssen, was am Besten wirkt, welches Foto die besten Farben hat. Ich war seine Assistentin und lernte so sehr viel über Grafik und die ganzen Farbtheorien. Ich weiss noch, wie er mir erklärt hat, dass es zweiunddreissig Grautöne gäbe.

Ich habe ja keine künstlerische, bildnerische Ausbildung gemacht, aber all diese Erfahrungen in der Familie und am Theater haben mich gebildet.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch mit Brigitte Broch führte Donna Hanisch, Leitung Fachbereich Szenenbild, Maskenbild und Kostümbild an der IFS Köln, im Rahmen der von FOCAL organisierten Masterclass Production Design vom 26. und 27. November 2011 in Zürich

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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