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Princess Shaw

Der israelische Regisseur Ido Haar erzählt in seinem Dokumentarfilm ein Aschenputtel-Märchen: von der Möchtegern-Sängerin Princess Shaw, die im Altersheim arbeitet und sich selbst beim Singen filmt, und dem Musiker Kutiman, der in einem Kibbuz lebt und aus Amateur-Youtube-Clips erfolgreiche Songs zaubert.

Text: Florian Kasperski / 05. Okt. 2016

«No matter how far we're apart, we are all the same.» Das Internet hat die Welt in einen Raum ohne Grenzen verwandelt. Distanz ist keine Hürde mehr, und eine Fülle an neuen Möglichkeiten bietet sich dem Filme- und Musikmachen. Geschichten wie die von Princess Shaw werden erzählbar, und Kollaborationen zwischen Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt sind keine Neuigkeit mehr. Der israelische Filmemacher Ido Haar hat sich diese Möglichkeiten zunutze gemacht und inszeniert mit Princess Shaw einen multimedialen Feel-good-Dokumentarfilm, der präzis in den Zeitgeist der Generation Youtube und Copy-Paste passt.

Bei Tag ist Samantha Montgomery Pflegerin in einem Altersheim in New Orleans. Neben ihrem Job gehört ihre grosse Leidenschaft schreiben und singen von eigenen Songs. Unter dem Künstlernamen Princess Shaw postet die 40-jährige Afroamerikanerin mit den knallroten Haaren Gesangssolos auf Youtube und tritt bei lokalen Veranstaltungen auf. Eine halbe Welt weiter in Israel lebt der Musiker Kutiman zurückgezogen in einem Kibbuz. Seine Spezialität ist es, verschiedene musikalische Bausteine aus zahlreichen Videos zu nehmen und diese zu etwas Neuem zusammenzuführen. Das Material stammt dabei ausschliesslich aus Amateur-Clips, die er häufig loopt, parallel schaltet und so in Klangteppiche verwandelt. Beim Durchstöbern des Internets stösst er auf die melancholischen Songs der Prinzessin. Er ist fasziniert von ihren Liedern und arrangiert eine Begleitung zu ihrem Gesang. Das Resultat hat bis heute fast 3 Millionen Klicks auf Youtube generiert, wodurch sich für beide neue Wege eröffneten.

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Wie die Clips von Kutiman ist auch der Film eine Art Collage aus verschiedenem Material. Haar verlässt sich nicht nur auf seine Kamera, sondern verwendet auch viele Videos von Samanthas iPhone, um ihre Story zu erzählen. So kommt ein sehr intimes Bild der Protagonistin zustande. Montagetechnisch verwebt er seine verschiedenen Quellen immer wieder auf interessante Weise. Beispielsweise beginnt er eine Szene mit einer Aufnahme von Samantha, wie sie sich selbst mit ihrem Handy filmt. Die nächste Einstellung ist aus der Sicht ihrer Handykamera, und wir sehen in iPhone -Qualität und anderem Bildformat ihr Gesicht. Darauf folgt eine Einstellung von Kutiman, der den Post auf Youtube anschaut. Haar führt uns in dieser Sequenz durch eine Art Röhre, indem er von einem Medium zum nächsten springt.

Begonnen hatte das Projekt als Dokumentarfilm über diverse Youtuber. Haar war aber derart von Samantha angetan, dass er sich dazu entschied, das Projekt auf sie zu fokussieren. Für den aufmerksamen Zuschauer ergeben sich jedoch schnell Probleme mit dem dokumentarischen Anspruch, da die Chronologie der Aufnahmen manipuliert wurde. Das Arrangement einiger Szenen suggeriert, dass Haar gleichzeitig in Israel und den USA war. Wenn Kutiman den Beitrag postet, ist es schlicht nicht möglich, dass Haar die Reaktion von Shaw rechtzeitig aufnehmen kann, was wiederum bedeutet, dass eine Szene nachgedreht werden musste und somit gestellt ist.

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Haars Montage ist interessant, der Film hat jedoch einige dramaturgische Mängel. Die Presse betitelte sein Werk als «regelrechtes Aschenputtelmärchen», was beim Publikum bestimmte Erwartungen weckt. Eine für ein Märchen typische Spannungsachterbahn sucht man jedoch vergeblich, und der Film verbraucht einen Grossteil seiner Laufzeit dafür, das tägliche Leben seiner Protagonisten zu schildern. Ein Aschenputtel-Märchen braucht eine Figur, die von ganz unten kommt. Wohl aus diesem Grund zeigt uns Haar eine Szene, in der Samantha erzählt, dass sie als Kind Opfer von häuslicher Gewalt war. Das wirkt etwas aufgesetzt, und der Film offenbart sich damit wiederum als Konstrukt. Wie viel ist hier tatsächlich dokumentiert und was inszeniert.

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Trotzdem berührt der Film durch seine Nähe zur Hauptfigur. Zu Beginn erzählt Samantha aufgeregt, dass sie am folgenden Abend einen Auftritt hat. Wir begleiten sie durch die Vorbereitungen und sehen ihr zu, wie sie auf viel zu hohen Absätzen über die Strasse, Richtung Konzert stolpert. Dort wird klar, dass sie überhaupt nicht die Einzige ist, die auftritt. Eine ganze Schar von Hobby-Musikern will dem stetig schwindenden Publikum ihr Talent zeigen. Als Princess Shaw als eine der letzten endlich an die Reihe kommt, ist der Saal bis auf ein paar versprengte Gestalten leer. Trotzdem trippelt sie mit unerschütterlichem Willen auf die Bühne. Das erzeugt eine ungeheure Tragik, die sich durch den ganzen Film zieht. Einen späteren Auftritt beim Casting von The Voice muss Haar nicht einmal mehr explizit zeigen, dass es wieder nicht geklappt hat.

Umso mehr freut man sich über das märchenhafte Ende des Films, das Princess Shaw und ihr Prinz Kutiman zusammenführt und sie zumindest für einen kurzen Augenblick den erträumten Ruhm erlangt. Haar zeigt, dass Distanz kein Hindernis ist. Der Film ist allen Menschen mit Talent gewidmet, die möglicherweise nie entdeckt werden. Eine Ermunterung für alle Künstler und eine Erinnerung, dass man es auch ohne grosse Mittel schaffen kann, gehört zu werden.

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Florian Kasperski studiert Anglistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Er hat im Sommer 2016 ein Praktikum bei Filmbulletin absolviert.

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