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Big Big World

Aus einer brutalen Realität flüchten Ali und Zuhal in eine Sumpflandschaft, ein temporäres Refugium. Ihr Ziel ist es, in der grossen Welt einen Platz zu finden. Der türkische Regisseur Reha Erdem lässt diese Welt in berückenden Bildern und mittels einer halluzinatorischen Tonspur zwischen Paradies und Hölle schweben.

Text: Aaron Estermann / 11. Juli 2017

Der Film hört für Ali da auf, wo er angefangen hat: an der Türschwelle. Beide Male will er diese Grenze überqueren, die ihn von seiner Schwester Zuhal trennt und damit von dem, was ihm auf der Welt am liebsten ist. Doch nur zu Beginn wagt er es noch, sich Zutritt zu verschaffen. Er tut dies schnell, leise und vor allem gewaltsam. Zuhals gesamte Pflegefamilie fällt seinen Messerstichen zum Opfer. Und dabei negierte der Ziehvater noch kurz zuvor – rätselaufwerfend –, dass Ali und Zuhal überhaupt verwandt seien.

Blutsverwandt sind die Waisen wohl tatsächlich nicht. Aber sie kennen sich vom Heim und fühlen sich füreinander verantwortlich. So sehr, dass sich Ali zum Mörder macht: Kompromisslos wird damit schon früh vom existenziellen Drang nach Zugehörigkeit erzählt. Die Flucht aus dem Pflegegefängnis, deren Notwendigkeit sich erst nach und nach offenbart, erfolgt auf dem Motorrad. Begleitet von lauten Motorengeräuschen flimmern die Lichter der türkischen Grossstadt vorbei, verziehen sich mehr und mehr ins Abstrakte. Und während sich so ein träumerisch-halluzinatives Abenteuer leise ankündigt, beobachtet man die Fliehenden mal aus der Vogelperspektive, dann wieder von vorne, nah: Alis entschlossener Blick verleiht seinen ansonsten feinen Gesichtszügen eine gewisse Härte, Zuhal klammert sich fest an ihren Helden – der Name Ali stammt aus dem Arabischen und bedeutet der Erhabene, der Edle.

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Aber wohin fliehen? In der weiten Welt, meint Ritter Ali, gebe es bestimmt einen Ort, wo man ausharren könne, bis man sie vergesse. Fernab der Zivilisation entdecken sie in einem Sumpfgebiet einen verlassenen Unterstand, den sie notdürftig herrichten. Und spätestens ab jetzt zeigt Reha Erdem, weshalb er zu den aktuell eigensinnigsten Regisseuren der Türkei gehört: Das temporäre Refugium entwickelt sich rasch zu einer phantastischen Zwischenwelt, in der die Hauptfiguren, die sich vor ihren Taten und der Welt der Erwachsenen verstecken, verwildern. Bei Zuhal geht dieser Prozess schneller; sie bleibt fast ständig im silbrig-grünen Sumpf und ist ihren Sinnen ausgeliefert – nicht ängstlich, aber einsam, wie sie selbst einmal bemerkt.

Ali hingegen fährt täglich ins nahe gelegene Dorf, um etwas Geld zu verdienen. Dass er dabei auch stets zum gastierenden Jahrmarkt pendelt und damit in eine weitere Fluchtwelt, jene des gemeinen Volkes, macht es umso spannender: Er trifft auf die Handleserin und Prostituierte «Onkel», trinkt Alkohol und kommt um sein Geld. Erdem nutzt den Tummelplatz des Jahrmarkts, um die grossen Gefühle des Coming of Age ebenso zu verhandeln wie Sexualität und Genderidentität.

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Derweil hat Zuhal im Wald längst ihre verdreckten Schuhe abgestreift. Dieses zivilisatorische Emblem, das ebenso wie Flora und Fauna immer wieder in sorgfältig kadrierten Grossaufnahmen gezeigt wird, stand zu Beginn noch schön säuberlich vor der Haustüre der Pflegefamilie. Immer stärker fällt sie ins Delirium, dessen sich letztlich auch Ali nicht verwehren kann. Doch nicht alleine der Prozess der Verwilderung macht Big Big World zu einem Film über die Grenzen der türkischen Gesellschaft, vielmehr sind diese schon in die Körper der Protagonisten eingeschrieben. Als Waisen haben die Geschwister ohnehin schon einen schwierigen Stand, als Kriminelle erst recht. Ähnlich wie im Schweizer Spielfilm [art:kopek:Köpek] der türkischstämmigen Esen Işıks resultieren aus der gesellschaftlichen Grenzerfahrung tief berührende Schreie nach Liebe und Geborgenheit: dort in einem brutalen, städtischen Sozialrealismus, hier in der zauberhaften Natur, wo sich verzweifelte Suchende nach ihren realen oder symbolischen Vätern und Müttern sehnen.

Erst als Zuhal notfallmässig ins Spital muss, geht es zurück in die «richtige Welt». Dabei kommt es zur nochmaligen Schwellenerfahrung: Zunächst wird Ali von der Krankenschwester aus dem Zimmer geschoben, dann ergreift er selbst die Flucht, weil sich im Spital die Polizisten tummeln. Nach der patriarchalischen Familie ist es nun die Staatsgewalt, die Ali von seiner Schwester trennt. Zusammengekauert und schluchzend wartet er darauf, die Türschwelle nochmals überqueren zu können, aber die Polizei bleibt drin und Ali aussen vor – voller Ungewissheit über das Schicksal seiner Schwester.

Als Film Noir startend entführt Big Big World seine Zuschauerinnen und Zuschauer überraschend schnell in einen surrealistischen Kosmos, dem man sich (auch nach Filmende) nicht so leicht entziehen kann – nicht will, weil diese märchenhafte Erzählung geschickt an der Realität und der Wucht von Einzelschicksalen verhaftet.

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Aaron Estermann ist der Gewinner eines Wettbewerbs im Rahmen des Kritikworkshop am Bildrausch Filmfest, Basel 2017.

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