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Pink flamingos

Ironie ohne Ende

The golden age of trash
has long been over
because irony ruined it.

John Waters

Noch hatte der Trash nicht in unserem Staatsfernsehen Einzug gehalten, wir entdeckten ihn auch nicht im amerikanischen Fernsehen, sondern im Kino Nord-Süd bei Retrospektiven von John Waters. Was in den USA bereits von der Gesellschaft des Spektakels geschluckt worden war, faszinierte uns in seiner grellen Fremdheit. Diese Lust explodierte, als wir endlich eine VHS-­Kassette mit dem Film Pink Flamingo fanden, der dank der Zürcher Polizei und dem Jubel des «Tages-Anzeigers» 1974 in Zürich beschlagnahmt und mitsamt dem Werbematerial vernichtet wurde.

Text: Stefan Zweifel / 15. Juli 2015

The golden age of trash
has long been over
because irony ruined it.

John Waters

1990 verzweifelte der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace am Triumphzug des Trash im amerikanischen Fernsehen, er sah sich vom ironischen Grinsen umzingelt und für die Autoren nur noch einen Ausweg: komplexe, schwer entzifferbare Texte, die sich der Konsumierbarkeit und der Gesellschaft des Spektakels entziehen. In seinem Werk «Infinite Jest» (1996) wird ein Avantgarde-Filmer zum letzten wahren Terroristen: Er entwickelt einen Film, bei dem man starrend sitzen bleibt, geifernd vor Lust, gaffend, bis man vor dem TV-Apparat vor lauter «unendlichem Spass» stirbt.

So sassen wir damals selber in der Schweiz, in Zürich: Noch hatte der Trash nicht in unserem Staatsfernsehen Einzug gehalten, wir entdeckten ihn auch nicht im amerikanischen Fernsehen, sondern im Kino Nord-Süd bei Retrospektiven von John Waters. Was in den USA bereits von der Gesellschaft des Spektakels geschluckt worden war, faszinierte uns in seiner grellen Fremdheit. Diese Lust explodierte, als wir endlich eine VHS-­Kassette mit dem Film Pink Flamingo fanden, der dank der Zürcher Polizei und dem Jubel des «Tages-Anzeigers» 1974 in Zürich beschlagnahmt und mitsamt dem Werbematerial vernichtet wurde.

Unsere biedere Sehnsucht nach Trash

«I am Divine», jubiliert Waters Dragqueen wieder und wieder unter einem entgötterten Himmel, wo die Welt, im Sinne Nietzsches, nur als ästhetisches beziehungsweise unästhetisches Kunstwerk gerechtfertigt ist. Wenn wir damals gewusst hätten, wie verzweifelt wir uns nach diesem Ausbruch anarchischer Lust auf Selbstvergöttlichung im Jetzt sehnten, wenn wir, eine brave Bande von Freunden im Zürich der achtziger Jahre, bei der Entdeckung von Waters’ Filmen, die uns mitten ins pubertäre Hirn und Herz trafen, geahnt hätten, wie viel mehr wir uns heute nach unserer damaligen Sehnsucht sehnen würden, obwohl ­Divine, die ganze Unform ihres Körpers in Rosa gezwungen, den Revolver nicht nur auf ihre Opfer richtete, die sie in einer schockierenden Szene vor der laufenden Kamera von TV-Reportern exekutiert, sondern auch gegen uns, und dabei unsere kleinbürgerliche, kleinzürcherische Wohlstandssphäre ins Visier nahm …

Wenn wir geahnt hätten, wie diese Sehnsucht nach unserer eigenen Jugend und jener weit jugendlicheren Jugend, die auf den wilden Bildern aus Baltimore vor unseren Augen flimmerte, und uns als Inbild der rasenden Rebellion der siebziger Jahre ganz in den Jetztaugenblick der Revolte riss … wir wären über die Gewalt der Bilder, und zwar nicht über die explizite Gewalt, sondern über die künstlerische Gewalt und Kraft erschrocken. Wir hätten nicht so naiv an den Karten des «Odoramas» gerubbelt, wenn in ­Polyester (1984) ein jugendlicher Liebhaber einen Strauss weisser Rosen ins Bild hält und wir – was? – Scheisse rochen oder den Schwall von Gekotztem, während der Pizzaboy an der Tür klingelte und die Duftspur des Films im asynchronen Riss mit dem Bild unsere Lachlust erregte.

Und noch erschrockener wären wir, wenn wir damals bereits gewusst hätten, dass John Waters jene Welt des radikalen Trash bereits hinter sich gelassen hatte, auf subtilere Weise Hollywood mit Johnny Depp in Cry Baby (1990) unterwanderte. Doch dort ist heute nach dem Siegeszug des Trash in daily soaps und TV-Talks bereits der rote Teppich für glamouröse ­Piraten der Pulp-Kultur wie Depp ausgelegt, der die tuntigen Gesten ins globale Disneyland unserer Gegenwart trägt und als Captain Sparrow die letzten Wracks des white trash entert. Da freilich hatte Waters die Ebene schon längst wieder gewechselt: Den bewährten Kick der ­Dandys, sich durch einen elitär guten oder einen exklusiv schlechten Geschmack von der Masse abzuheben, fand er nun – in der Kunst. Er bastelte sein eigenes Kopfkino: In der Nachfolge von Salvador Dalís «Essai de simulation du délire cinématographique» (1935) pflegt er den Schock der Hoch- und Tiefkultur in Collagen von Filmstills. Die Kühle des amerikanischen Minimalismus meets Trash.

Die Kinder von Pink Flamingo

Wir ahnten nichts von diesen subtilen Wandlungen, die sich in Waters’ Werk damals vollzogen – und auch nicht, wie sehr der Titel eines Buches von Charles Bukowski auf uns selbst zutraf: «Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend». Das Schlimmste: dass wir nie eine solche Jugend hatten wie Waters, dessen Filme uns, die wir bereits im Endstadium der Popkultur eingekerkert waren, von einem Leben jenseits des Mainstream träumen liessen. Ja, wir wären gern so durchs Leben gestrolcht, wie es John Waters in den sechziger Jahren tat, als er Woche für Woche seine Lebensfreunde um sich scharte, Divine natürlich, oder Mink Stole, die eigentlich nur Mink hiess, aber dauernd shoplifting betrieb und so zu ihrem «Familiennamen» Stole kam, wobei sie Plüschplunder und Funkelklunker zusammenstahl, um sich in die Galerie der grossen Diven einzureihen. Jene verschworene Bande auf LSD, die mit ihm das ganz Andere, das radikale Draussen, das Abseitige des Abartigen erkundete.

Zwischen dem Massengeschmack des Kleinbürgertums und dem Massenzwang des Hippietums waren sie – zehn Jahre vor den Sex Pistols – bereits Punk. Sie lebten auf einer Insel. Sie waren die ausgeschlossenen Dritten. No future? Sie lebten ganz in der Gegenwart und wussten nicht, dass ihnen die Zukunft gehören würde. Dass viele von uns, noch Jahrzehnte später, den Trash weiterzelebrieren würden, als er bereits ­Mainstream war und wir letztlich nur biedere Kinder blieben, die die revolutionären Konzepte von anno dazumal in Theater und Texte trugen, in der ewigen Wiederholung einer Art Schlingensief-Schlaufe.

Unsere Generation spielte in gesicherten Räumen nach, was damals im letzten Freiraum des Kommerzes als Aufstand gegen die Norm ausgelebt und overacted wurde. Wir sitzen heute da wie die Kinder in Waters Kiddie Flamingos, wo 2014 kleine Kinder den Text des Filmes vortragen – ein radikal selbstironischer Kommentar zum shock value seiner Filme. Wir sind noch immer diese Kinder. Eigentlich erschreckend.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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