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Eine Erdnuss ist eine Erdnuss

Wie waren die diesjährigen Kurzfilmtage in Oberhausen? Dennis Vetter blickt kritisch zurück und entdeckt dabei unter anderem die israelische Filmemacherin Raquel Chalfi.

Text: Dennis Vetter / 21. Mai 2016

Ein Gruppengespräch. Wenn Filmemacher und -kurator Chris Kennedy im Bezug auf den Erwerb von Filmkopien von Peanuts spricht, thematisiert er damit günstige Kopien, die man sich mal so nebenbei sichern kann. Die sind einfach zu erwerben und dabei dennoch relevant für die Sammlung. Manchmal macht es auch Sinn, mehrere Exemplare von Stan Brakhage im Regal zu haben. Ein unkomplizierter Fang quasi. Bei grösseren Beträgen muss natürlich kritisch abgewogen werden, was in den Verleihkatalog von LUX London wandert und damit zukünftig von einem prägenden Gatekeeper der Sichtbarkeit für Experimentalfilm und Videokunst vertrieben und bewahrt wird. Kriterien benennt er keine. Seine Kollegin Isla Leaver-Yap von der Zweigstelle in Schottland rügt er kurz darauf, weil sie sich ausdrücklich vom klassischen, patriarchal geprägten Kanon des Experimentalfilms distanziert. Denn LUX repräsentiere in Archiv und Verleihpraxis doch zweifelsohne dessen wichtigste Vertreter. Das Gespräch zwischen der schottischen Aussenstelle und der Londoner Zentrale ist souverän, kippt ab und an ins Polemische. Es wird zumindest klar, dass hier Hierarchien nicht nur auf dem Papier existieren und Archivierung von einer Sensibilität für Ideengeschichte nicht zu trennen ist – im Idealfall schliesst diese Sensibilität auch Kritik ein. Von «Artists moving image» ist aktuell immer die Rede. Das kann ein Begriff sein, der sich explizit von einer Traditionslinie eines Experimentalfilmkanons emanzipiert, im positiven wie im negativen Sinn. Das muss ein Begriff sein, der in seiner Konsequenz regelmässig hinterfragt wird.

Wenn es um aktuelle Statusfragen geht oder um Budgets werden die Gespräche manchmal ernst in Oberhausen, ab und an auch ein bisschen eitel und manieriert. Manche verlassen ungern ihr professionelles Terrain, auch bei den Begegnungen zwischen den Filmen. Um beim Beispiel zu bleiben: Erst einmal ist es natürlich beruhigend, dass sich innerhalb einer so entscheidenden Institution – oder Agentur, wie sich LUX selbst definiert – nicht alle einig sind. Stellen sich jedoch insbesondere unter EntscheiderInnen der Kunstwelt Automatismen und Autoritäten in den Sprechweisen ein, hinterlässt das einen unangenehmen Beigeschmack. Oberhausens neue Positionen-Programmreihe lieferte da weiteres rhetorisches Anschauungsmaterial. Hier präsentieren sich zukünftig Museen, Privatsammlungen und Galerien, die sich mit dem bewegten Bild auseinandersetzen. Ein Versuch, dringliche Diskurse und praktische Fragen sichtbar zu machen.

Das gelingt schon dem ersten Vortrag: Nav Haq, der Chefkurator des Museum van Hedendaagse Kunst Antwerpen (M HKA), liefert eine Präsentation, die einzig als Performance zu verteidigen wäre. Seine Rhetorik vermeidet Position, Intuition und Passion, lässt Werke von Chantal Akerman im Bestand seines Hauses als reichlich deplatziert und pervertiert erscheinen, als Referenz im Regal. Man sammle gegen den Kanon und versuche nicht das Gleiche zu kaufen, wie die anderen. Manches ist mehr oder weniger «significant» und jedwede Verbindung mit anderen Bildarchiven sei ja völlig abwegig. So much for substance. Das Gespräch stapelt bürokratische Floskeln aufeinander und hätte sich auch um Möbel drehen können.

Neben den «Positionen» verortet sich Oberhausen in seinem 62. Jahr mit dem 3. Oberhausen Seminar sowie mit einer erstmaligen Ausstellung (kuratiert durch die Künstler Josef Dabernig und Sun Xun selbst) und einem neuen Workshop für Kunstkritik unter der Leitung von Jan Verwoert ausdrücklich an einer Schnittstelle zwischen klassischem Kino und gegenwärtiger Kunstpraxis, deren schizophrene Natur unbedingt zu diskutieren und zu problematisieren ist.

Identifikation durch Partizipation

Lars Henrik Gass beginnt das Festival mit einer ironischen Polemik zur Programmrealität des Hörfunks, wo zunehmend Beiträge von Hörerinnen und Hörern ausgewählt werden. Sein kleines Schauspiel verbietet sich nicht das Schmunzeln, lässt aber keine Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit. Ironie kann ja bekanntermassen ebenso eine Zuflucht und Hoffnung auf Schärfe sein, wie sie auch das Risiko der harmlosen Unverbindlichkeit birgt. In diesem Feld gilt es sich unentwegt klar zu positionieren, mit den nötigen Akzenten. Nicht nur bei Eröffnungsreden. Übrigens: Wie in Oberhausen etwas denn nun gemeint ist – ironisch, sarkastisch oder gar zynisch, in jedem Fall hoffentlich bewusst oder zumindest strategisch – das offenbart sich manchmal selbst beim genauen Zuhören und Zusehen nicht. Olaf Möller vom Auswahlkomitee liefert das grösste Rätsel, wenn er nicht müde wird, sich und seine Kolleginnen und Kollegen vom Programmteam bei den Anmoderationen des internationalen Wettbewerbs unentwegt als schuldig zu identifizieren. Je öfter man das hört, desto mehr verwundert es in der offensichtlichen Beharrlichkeit. Wie das wohl auf die präsentierten Künstlerinnen und Künstler wirkt? Wie jemand spricht, das provoziert nun einmal immer Schlüsse auf einen Kontext und eine politische Realität.

Federico Windhausen kuratierte in diesem Bewusstsein den diesjährigen Themenschwerpunkt zu Lateinamerika und betonte in seinen Erläuterungen, dass es in seiner Filmauswahl eben genau die jeweiligen Kontexte sind, die zunächst ausgeblendet werden. Das Programm konfrontiert das Publikum mit Momenten, Gedanken, Schauplätzen und Gesten, die losgelöst scheinen von den sie umgebenden Umständen. Etwa in Corda (Brasilien, 2014) von Pablo Lobato, der eine katholische Prozession als intensive Konfrontation mit einer angespannten Körperlichkeit inszeniert und darin eine gleichermassen euphorische wie bedrohliche Präsenz entfaltet. Wer genau hinsieht oder in der Nähe von Brasilien sozialisiert ist, findet Spuren zum spirituellen und kulturellen Kontext im Bild und weiss genau, was hier vor sich geht. Ungeschulte Blicke hingegen begegnen dem Film als losgelöster Erfahrung von sonderbarer Strenge, wo schwitzige Ekstase und die nervöse Verwundbarkeit einer halbnackten, drängenden Menschenmasse aufeinandertreffen.

La estancia still

«El Pueblo», das Volk als politische Idee, Körperbegriff und Sensibilität, verhandelt Windhausen in acht Versuchsanordnungen, die das Sehen erfolgreich zu einer Spurensuche machen (siehe zum Begriff auch Gonzalo Aguilar: «New Argentine Cinema» ). Windhausen selbst beschreibt dazu: «Die vorliegenden Filmprogramme legen nahe, dass sich ein Zweig des aktuellen Filmschaffens etabliert, der auf das konfliktreiche ideologische Klima im Lateinamerika des 21. Jahrhunderts reagiert, indem er uns auffordert, politisch brisante Mikroräume sowohl im Hinblick auf Verhaltensforschung als auch in materieller und ökologischer Hinsicht zu inspizieren.» Politisch interessante Mikroräume zu inspizieren, das ist natürlich stets ein sinnvolles Unterfangen. Besonders bei einem Festival, das sich von der Tradition und hoffentlich auch der Zukunft kulturpolitischer Keimzellen als untrennbar gibt. Interessant ist schon einmal, dass ein Lateinamerika-Schwerpunkt im Umfang von rund fünfzig Arbeiten bei einem förderlogisch notwendigen europäischen Programmanteil von insgesamt 75 Prozent eine intakte Haltung und Ambition vermittelt.

Rhetorik

Nach langen Tagen und im Angesicht der einen oder anderen Verwässerung stellt er sich bei mir dieses Jahr dann doch ein: ein schleichender Zynismus. Ein unerwartetes und wenig willkommenes Gefühl in Oberhausen, geboren in einer fremdbestimmten Askese. Man hofft immer, da drumherum zu kommen. Aber der Jahrgang ist einfach nicht so stark. Insbesondere die Natur eines internationalen Wettbewerbs ist natürlich niemals einfach zu bändigen. Um negatives Staunen komme ich 2016 aber in keinem von vier geduldig beobachteten Blöcken herum. Zumeist mangelt es einfach an einer Erotik des Sehens. Irgendwie prickelt es einfach nicht. Linderung von der Sinnsuche bietet zeitweise das ziellose gedankliche Umherwandern in Olaf Möllers tollen Profilprogrammen zu Joseph Dabernig. Die Filme sind nicht zynisch, wissen aber offensichtlich sehr genau, wovon beim Zynismus die Rede ist.

Philosophieren (Deutschland, 2016) von Paul Spengemann bietet auch eine Ausnahme, wird dafür aber auch gleich als voyeuristisch angegriffen. Der deutsche Wettbewerb fühlt sich ein weiteres Mal näher am Kino an, als der internationale. Der israelischen Filmemacherin und Autorin Raquel Chalfi ist ein Porträt gewidmet, ihre Arbeiten waren bisher kaum zu sehen, sind teils noch immer nicht untertitelt. Allen voran schimmert ihr längster Film, Possibilities, Or Bluebeard And Me (Israel, 1983), ist durchflossen von einer Sinnlichkeit des Körpers und einer schamlosen Begeisterung für das Filmen, wie ich sie in kaum einem anderen Programm wiederfinde. Vielleicht sind ihre Bilder so unverstellt, weil sie keine Kunstschule besucht hatte, bevor sie mit dem Filmemachen begann. Zunächst war sie Dichterin. Wolkenschatten von Juan David González Monroy und Anja Dornieden (Deutschland, 2014) wird bei Light Cone präsentiert und braucht seine Bilder nicht einmal zu bewegen. Denn hier gibt es eine Sprache, die endlich nicht nur erklärt oder mir einen Aufsatz vorliest. Der Film hatte damals bei den Konkurrenten in Rotterdam Premiere und muss nun über den französischen Umweg verspätet nach Oberhausen reisen.

Her dream 1

Am Ende wird alles nochmal besonders gut, als das Programm des Canadian Filmmaker Distribution Centre (CFMDC) mit durchweg klaren Filmen sehr versöhnt. Keine heisse Luft hier, weit und breit. Spermwhore (Schweden, 2016) von Anna Linder wäre besonders zu betonen. Und am Ende fackelt Rhizomatic Directed Simulation (Canada, 2014) von Alexandra Gelis sechs Minuten die Leinwand ab und verkündet mit Borges: «Die beste Imitation ist die Zerstörung des Originals und die Erschaffung eines selbstreferenziellen Textes.» Das liesst sich beinahe bescheiden neben all den aufgepusteten Avantgarde-Verweisen hier beim Festival, wo sich jedes zweite Projekt mit Worthülsen in der einen oder anderen radikalen Tradition verortet.

Spermwhore webstill

Wild Things

Es scheint etwas Strukturelles zu sein. Während das Festival mit dem Kunstmarkt ringt und sich das Kuratieren als geflügeltes Wort bis in die Wirtschaft ausgebreitet hat, wirken viele Programmbeiträge schon in sich wie Ausstellungen und gleichermassen deren Katalog. Begriffe werden bebildert, Kontexte werden erforscht und Zusammenhänge eingegrenzt und formuliert. Wenn Künstlerinnen und Künstler der Logik einer kuratorischen Praxis schon in ihren Arbeiten zuvorkommen, ist das ebenso smart wie feinsinnig und nicht minder strategisch eindrucksvoll, geradezu bewundernswert und ja offensichtlich erfolgreich. Es macht aber auch ungeduldig, unruhig und träge – und, bei allem Respekt, zynisch.

Soll ich jetzt einen Film politisch nennen, wenn er die Geduld eines Publikums bis zum Aktivismus hin strapaziert? Manche Arbeiten sind in sich didaktisch, man erkennt da schon etwas, na gut. Aber man wird ja wohl noch fragen dürfen, auch an die Filmschaffenden unter uns: Braucht es gegen die diskriminierende Sortierungspraxis einer kulturgeschulten Bildindustrie nicht ab und an ein wilderes Sehen, ein aufregendes Sehen, das sich nicht mit Erkenntnis, Analyse, Adaption und der Ausstellung der eigenen methodischen Ausgereiftheit zufrieden geben will? Vorsicht und Strategie sind feine Angelegenheiten. Nicht jedoch, wenn sie in vorauseilendem Gehorsam münden. In vier internationalen Wettbewerbsprogrammen ist kein Film eine philosophische oder ästhetische Provokation und meine Geduld erschöpft sich damit noch vor der Hälfte. Natürlich, es gibt wohl solche Jahre. Die Weinernte ist ja 2016 auch verhagelt. Man erinnert sich dann umso besser an die wenigen Geschmäcker, die durchkamen. Und da bröckelt er schon wieder, der Zynismus.

Riverplate still

Man hat sich natürlich zu arrangieren, das ist kein Geheimnis. Und man kann sich natürlich beim Zuschauen auch seinen Humor bewahren. Der springende Punkt beim Kuratieren und Programmieren ist dennoch, dass man einen Film nun mal nicht ironisch zeigen kann. Wenn Rhetorik ein Mittel der Macht ist und wir mit dem Bild als zentraler Gegenwartsgrammatik von Kunst und Kino konfrontiert sind, dann ist die Rhetorik des Zeigens, also die blosse Sichtbarkeit als Faktum und historischer Index, in letzter Konsequenz auch verknüpft mit einer objektiven Statussymbolik, mit Agenda, Macht und gesetztem Diskurs. Die Frage ist dabei immer wieder simpel und auch durch smartes Entscheiden nicht zu relativieren: Wer erteilt hier eigentlich wem das Wort und mit welcher Begründung?

«Open Screen» heisst ein weiteres Programmformat, bei dem sich Filmemacher und Filmemacherinnen abseits der offiziellen Festivalauswahl mit ihren Arbeiten selbst präsentieren dürfen. Gezeigt wird nur, wer auch anreist und die Einladung zur Selbstausbeutung mit Handkuss annimmt. Das ist natürlich so ähnlich, wie im regulären Programm zu laufen. Vor Ort ist schließlich das gleiche Publikum. Aber das Gleiche ist eben nicht das Selbe, selbst während eines schwachen Jahrs in Oberhausen. Nur eine Erdnuss ist eine Erdnuss, and nothing else.

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