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Electroboy 02

Die Dramaturgie des Realen

In Diskussionen um Film und Kino – seien diese nun ästhetischer, wirtschaftlicher oder politischer Art – geht der Dokumentarfilm gerne vergessen. So auch, wenn es um Spoiler, Twists und generell um Fragen der Dramaturgie geht. Marcel Gislers Electroboy zeigt besonders eindrücklich, mit welch dramaturgischem Raffinement Dokumentarfilme gebaut sein können.

Text: Simon Spiegel / 13. Juni 2016

In Diskussionen um Film und Kino – seien diese nun ästhetischer, wirtschaftlicher oder politischer Art – geht der Dokumentarfilm gerne vergessen. So auch, wenn es um Spoiler, Twists und generell um Fragen der Dramaturgie geht. Dass die Rezension eines Dokumentarfilms mit einer Spoiler-Warnung versehen wird, geschieht höchst selten.

Dabei wissen Filmemacher – und mittlerweile auch die Filmtheorie – längst, dass der Dokumentarfilm nicht einfach die Wiedergabe der Wirklichkeit ist, sondern dass hier wie beim Spielfilm eine Geschichte erzählt wird. Das Material, aus dem diese gebaut ist, kommt zwar auf andere Weise zustande als bei der Fiktion, ist in irgendeiner Form in der Realität verankert, ihre filmische Aufbereitung erfolgt aber ebenfalls nach den gängigen erzählerischen Kriterien. Der Dokumentarfilm kennt ebenfalls Held und Antagonisten, Spannungsaufbau, falsche Fährten oder Wende- und Höhepunkte.

Marcel Gislers unter anderem mit zwei Schweizer Filmpreisen – in den Kategorien Dokumentarfilm und Schnitt – ausgezeichneter [art:electroboy:Electroboy] zeigt besonders eindrücklich, mit welch dramaturgischem Raffinement Dokumentarfilme gebaut sein können. Im Aufbau bedient sich die filmische Lebensgeschichte Florian Burkhardts eines erzählerischen Kniffs, der in Drehbuchratgebern gemeinhin als «backstory wound» bezeichnet wird. Damit ist ein oft traumatisches Ereignis in der Vorgeschichte des Protagonisten gemeint, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart der Filmhandlung spürbar bleiben und das gut freudianisch ausgegraben, blossgelegt, wiederholt oder durchgespielt und zumindest im Hollywoodfilm schliesslich neutralisiert wird.

Dass es bei Gislers Protagonisten eine solche dunkle Stelle gibt, deutet sich früh an, obwohl Electroboy eher wie ein Schelmenroman beginnt. Burkhardt zog nach abgeschlossenem Lehrerseminar mit einer erfundenen Biografie aus, um Filmstar zu werden, und reüssierte in schneller Folge als internationales Model, Internetpionier und Partyveranstalter. Als Zuschauer weiss man dabei nie recht, ob man es mit einem mit überreichlichem Talent gesegneten Wunderknaben oder einem charismatischen Hochstapler zu tun hat. Und von Anfang an springt die Diskrepanz zwischen Florians einstigem Glamourleben und seiner aktuellen Situation als zurückgezogener, unter Angststörungen leidender Einzelgänger ins Auge. Schnell wird klar: Irgendetwas ist hier passiert.

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Es ist die grosse Kunst des Films, dass er sich während über einer Stunde allmählich an dieses «etwas» herantastet, dabei aber nie plump verfährt. In Burkhardts Kindheit ist offensichtlich einiges schiefgelaufen, dass es aber tatsächlich ein zentrales Ereignis gab, auf das vieles zurückgeführt werden kann, wird erst eine knappe halbe Stunde vor Ende offenbar. Bei einem vom Vater verschuldeten Autounfall kam der jüngere Sohn ums Leben; anschliessend wurde Florian gezeugt, um – in seinen eigenen Worten – «dieses Loch zu stopfen». Wenn sich nun auch nicht alles erklärt, so werden die erdrückende Fürsorge der Mutter wie auch die Distanziertheit des Vaters zumindest nachvollziehbar. Und man beginnt zu verstehen, warum Florians älterer Bruder dieser Familie weitgehend unversehrt entkommen ist.

Der Autounfall, vom Vater sachlich erzählt, ist ein geradezu mustergültiger Wendepunkt im Aufbau des Films: Er erscheint als grosse Überraschung, als veritabler Schock, erweist sich im Rückblick aber als geradezu zwingend, er fügt sich nahtlos in das bisher Erzählte ein und lässt es zugleich in neuem Licht erscheinen.

Ein übervolles Leben wie jenes Burkhardts wird gerne als filmreif bezeichnet; gemeint ist damit natürlich der Spielfilm – so etwas kann es nur im Kino geben. Tatsächlich wurde Marcel Gisler der Stoff zu Electroboy ursprünglich als Spielfilm angeboten. Es ist allerdings fraglich, ob diese Vita wirklich fiktionstauglich ist. Es gehört zu den Tücken des Erzählhandwerks, dass zu geschliffene Geschichten, bei denen alles nahtlos aufgeht, stets Gefahr laufen, ins Unglaubwürdige zu kippen. Und angesichts der schieren Fülle dieses Lebens hätte bei einem Spielfilm in der Tat die Gefahr bestanden, dass der Plot zu forciert und insbesondere die «backstory wound» des Autounfalls konstruiert erscheinen würde. Als Dokumentarfilm hat Electroboy dagegen den entscheidenden Vorteil, dass die grundsätzlichen Fakten unbestritten sind.

Allerdings muss man als Dokumentarfilmer damit umgehen können, dass das Leben keine runden Abschlüsse bereithält. In einem Hollywoodfilm wird die Wunde des Protagonisten typischerweise geheilt und das Trauma überwunden, sodass am Ende wieder harmonische Verhältnisse herrschen. In der Wirklichkeit geschieht das nicht. Weder ist Florian Burkhardt am Ende von §Electroboy von seinen Phobien kuriert, noch ist sonst etwas zum Abschluss gekommen. Das Gegenteil ist der Fall: Am Ende der Dreharbeiten verlässt Florians Mutter ihren Mann, ein vom Filmteam begleitetes Familientreffen endet unbefriedigend, wie es weitergeht, bleibt offen. Zumindest hier verweigert sich die Wirklichkeit den dramaturgischen Zwängen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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