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Dheepan 02

Dheepan

Wenn man im Kino von einem Milieu erzählen will, das nicht das eigene ist, hat man grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder man ignoriert die Differenz und imaginiert eine Innenperspektive. Jacques Audiard wählt eine Aussenperspektive, allerdings eine ungewöhnliche: Die Vermittler sind selbst nicht Teil der französischen Mehrheitsgesellschaft. Ganz im Gegenteil: Sivadhasan, Yalini und Illayaal sind im Zuge des Bürgerkriegs aus Sri Lanka geflohen. Sivadhasan wird bald nach der Ankunft ein Job als Hausmeister im Pariser Vorort Le Pré-Saint-Gervais angeboten.

Text: Lukas Foerster / 02. Nov. 2015

Wenn man im Kino von einem Milieu erzählen will, das nicht das eigene ist, hat man grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder man ignoriert die Differenz und imaginiert eine Innenperspektive. Oder man konstruiert eine oder mehrere Vermittlerfiguren, die den eigenen Blick von aussen (und in den meisten Fällen auch den des Publikums) in den Film selbst hineinholt. Wenn man zum Beispiel als französischer Mittelschichtsfilmemacher einen Film über das Leben in den Banlieues drehen will, gilt das Entsprechende: Es gibt Filme wie La haine von Mathieu Kassovitz, der gemeinsam mit Darstellern und Team monatelang im Viertel Chanteloup-les-Vignes lebte, um ein möglichst authentisches Bild von der Existenz am Rand der Gesellschaft zeichnen zu können; und es gibt Filme wie Laurent Cantets Entre les murs, der eine Französischlehrerin als Vertreterin des angenommenen gesellschaftlichen Mainstreams mit einer migrantisch geprägten Schulklasse konfrontiert.

In dieser Hinsicht ist der in Cannes eher überraschend mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Dheepan ein interessanter Sonderfall. Auch Jacques Audiard wählt eine Aussenperspektive, allerdings eine ungewöhnliche: Die Vermittler sind selbst nicht Teil der französischen Mehrheitsgesellschaft. Ganz im Gegenteil: Sivadhasan, Yalini und Illayaal sind im Zuge des Bürgerkriegs aus Sri Lanka geflohen. Sivadhasan wird bald nach der Ankunft ein Job als Hausmeister im Pariser Vorort Le Pré-Saint-Gervais angeboten.

Für die Bewohner der Hochhaussiedlung, in der der Grossteil des Films spielt – riesige Betonklötze umgeben von grünen Wiesen –, sieht es so aus, als komme der neue Hausmeister mit Frau und Kind an. Dabei sind die drei eine reine Zweckgemeinschaft. Als Familie geben sie sich nur deshalb aus, weil in einem Flüchtlingscamp in der Heimat zufällig drei Pässe auf den Familiennamen Dheepan verfügbar waren. Tatsächlich schlafen Sivadhasan, der Mann, und Yalini, die Frau, in getrennten Betten, für die neunjährige Illayaal möchte keiner der beiden so recht Verantwortung übernehmen.

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Drum herum herrschen die Gangs. Der Hausmeister darf seiner Arbeit nur dann nachgehen, wenn er von den Fusssoldaten der Bosse durchgewunken wird, seine vermeintliche Frau bekommt sogar einen Job im Zentrum der Macht: Sie pflegt einen alten, verstummten Mann und macht bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft des zwielichtigen Brahim. Vincent Rottiers gibt diesen psychotischen Brutalo ziemlich überzeugend: Wenn sich seine Mundwinkel verhärten, gilt es, schleunigst in Deckung zu gehen. Anfangs ist Yalini allerdings durchaus fasziniert von diesem Mann, von seiner Vitalität, die in krassem Gegensatz zu dem steht, was sie in ihrer eigenen Wohnung erlebt.

Denn Sivadhasan verschliesst sich zunächst in sich selbst. Das Gesicht des Hauptdarstellers (Antonythasan Jesuthasan war einst selbst Mitglied einer militanten tamilischen Separatistenorganisation, auf seiner Biografie basiert in Teilen der Film) scheint unlesbar, verstockt fast, gezeichnet von einer traumatischen Vergangenheit, die lange Andeutung bleibt. Bis zu einem gewissen Grad ist das der Reiz des Films: Audiard fühlt sich nicht in seinen Protagonisten ein, macht aus ihm keine klassische Identifikationsfigur, vor allem keine Projektionsfläche für wohlfeiles Mitleid oder Idealisierung. Stattdessen geht es gerade darum, dass der Neuankömmling weitgehend eigenschaftslos und unsichtbar ist, dass er aus dieser Position der absoluten Aussenseiterschaft heraus auf die Welt blickt und erst langsam lernt, sich in ihr zu orientieren. In dieser Hinsicht, in der Art, wie Beobachtungen langsam anfangen, sich auf Verhalten auszuwirken, wie der erst geduckt und verschreckt sich bewegende Sivadhasan vorsichtig forscher wird, erinnert Dheepan an Un prophète, den ambitioniertesten Film des Regisseurs.

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Bei Audiard geht es wieder und wieder um Menschen, die sich in sinnlichen Extremzuständen befinden. Seine Figuren sind mit Blindheit geschlagen (Sur mes lèvres), müssen sich in der Gefangenschaft (Un prophète) oder mit einer Behinderung (De rouille et d’os) zurechtfinden (oder sie lernen, das ist eine interessante Variation des Themas in De battre mon cæur s’est arrêté, Klavierspielen). Insofern ist es nur folgerichtig, dass Audiard auch Migration in erster Linie als einen Ausnahmezustand der Wahrnehmung begreift. Aber wo die besten Filme des Regisseurs, Un prophète und vor allem De battre mon cæur s’est arrêté, einen Sog entwickeln, der auf die sinnliche Wahrnehmung der Zuschauer übergreift, sie zumindest momenthaft mit einem fremden Blick auf die Welt konfrontiert, findet er in Dheepan kaum überzeugende Bilder für die Subjektivität seiner Figuren. Die gesamte erste Stunde bleibt der Film im filmischen Modus eines behäbigen Sozialrealismus gefangen. Wenn Audiard seinen Tamilenkrieger am Ende doch noch von der Leine lässt, gelingen ihm einige intensive Actionszenen, die freilich ziemlich berechnend anmuten: Das ist es doch, scheint der Film zu sagen, was ihr von einem Film über die Pariser Vorstädte erwartet, hier habt ihrs.

Die grösste Schwäche des Films ist allerdings, dass Audiard sich für die Flüchtlinge in ihrer spezifischen Situation, für diese Familie, die keine ist und auch keine sein will, kaum interessiert. Ein paar verstohlene Blicke des Manns durch die Badezimmertür, wenn sich die Frau umzieht, ein Anflug von Zärtlichkeit, wenn das Mädchen zu Letzterer ins Bett kriecht, das ist alles. Vor allem an Illayaal zeigt sich das Problem des Films: Sie ist die Einzige, die in ihrer neuen Heimat halbwegs zurechtzukommen scheint, die in die Schule geht, Französisch lernt, sich gegen Altersgenossen zu behaupten weiss. Aber mit diesem gelingenden Ankommen kann Audiard nicht nur filmisch nichts anfangen, er verliert es auch zunehmend aus den Augen zwischen den blutig wiederaufbrechenden Wunden des Bürgerkriegsveteranen und dem effektvoll fotografierten Machogehabe der harten Jungs aus dem Viertel.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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