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In the crosswind 1

In the Crosswind / Ristuules

In the Crosswind ist (so der Nachspann) «den Opfern des sowjetischen Holocaust gewidmet». Martti Heldes Spielfilmdebüt war eine der grossen Entdeckungen des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg 2014. Ein Film, dem man wünscht, dass er in die Kinos findet.

Text: Peter Kremski / 15. Juli 2015

Aus dem Schwarz des Bildes schält sich, während die Kamera langsam zurückfährt, die Gestalt einer jungen Frau mit Kind, das sich an sie geklammert hat. Sie befinden sich, in verkanteter Haltung, seitlich vorn an der offenen Ladeklappe eines abgedeckten Militärlastwagens. Davor ein Soldat, der offenbar versucht, ihnen beim Herabsteigen zu helfen. Alle drei ohne das geringste Anzeichen einer Bewegung, wie zu Salzsäulen erstarrt, zusammengestellt zu ­einer gespenstischen Personengruppe. Die Kamera bleibt nicht stehen, immer weiter weicht sie zurück. Noch ein Militärlastwagen kommt ins Bild, noch mehr Soldaten davor, aber nicht helfend, sondern sehr bedrohlich, mit Gewehren, gerichtet auf Zivilisten. Allesamt statisch arrangiert, als bewegten wir uns durch eine äusserst beklemmende Skulpturenlandschaft.

Dann schwenkt die Kamera nach links, fährt an einem Haus vorbei – Soldaten auch hier –, entdeckt hinter einer Hausecke einen kleinen Jungen, ganz allein, nähert sich ihm, passiert ihn und stösst hinter der nächsten Ecke schliesslich auf einen Bahnsteig, vollgepackt mit Männern, Frauen, Kindern, dazwischen die unvermeidlichen Soldaten. Ein erzwungener Massenabschied von vielen; der Zug mit seinen Viehtransportwaggons steht zur Abfahrt bereit. Die Kamera greift verschiedene Figurenkonstellationen heraus, fährt um sie herum, auf der Suche vielleicht nach einer anderen, ganz bestimmten.

In the crosswind 2

Dazwischen dann plötzlich, ganz zentral angeordnet, ein Mann, eine Frau, ein kleines Mädchen, eng umschlungen, wie zum letzten Mal. Die Kamera taucht zwischen all den anderen zu ihnen hindurch, umkreist das Paar, schwenkt hinab zu dem Kind. Nur einen Moment später, wenn die Kamera wieder hochschwenkt, sind der Mann und die Frau getrennt, nur noch durch den Blick miteinander verbunden, als hätte es in dieser kontinuierlich fliessenden Kame­rabewegung einen ungehörigen Jump Cut gegeben. Eine Trennung für immer. Der Mann und die Frau werden sich nie mehr wiedersehen. Das Mädchen bleibt zunächst bei seiner Mutter.

Eine Einstellung, die sechs Minuten dauert, und eine Plansequenz, die viele kleine Tableau-vivant-Momente zu einem grossen Tableau-vivant-Fresko verbindet. Nicht die einzige Sequenz dieser Art, die sich in Risttuulen (internationaler Titel In the Crosswind), dem Erstlingsspielfilm des estnischen Filmemachers Martti Helde, findet. Sein Film besteht zum überwiegenden Teil aus solchen Tableau-vivant-Sequenzen. Fast vier Jahre hat es gekostet, den Film zu realisieren. Zwei bis sechs Monate brauchte es, jedes dieser Tableau-vivant-Fresken (im Scope-Format) vorzubereiten, das dann an einem Tag abgedreht wurde. Massenszenen mit mehr als dreihundert Personen, die sich nicht bewegen durften und in präziser Körperhaltung erstarren mussten. Kontinuierlich in Bewegung nur die Kamera, die nach einer ausgeklügelten Choreografie durch diesen gigantischen Skulpturenpark hindurchgleitet. Dabei sind diese Tableausequenzen nur essenzieller Bestandteil einer weiter greifenden Dramaturgie. Am Anfang ist nämlich alles anders, normaler und geradezu idyllisch. Das familiäre Leben ist noch in Ordnung, die kleine Welt, in der man lebt, noch heil. Und die Familie, die später auseinandergerissen wird, erscheint unzertrennlich.

Das erste Bild des Films zeigt als Detail die Hände einer Frau, die an einem Kleiderband knüpfen, das ihre Taille umringt. Dann gross ihr Gesicht, ihr Blick, die Drehbewegung ihres Kopfes, ihr Lächeln. Ihre Stimme aus dem Off, die sich an Herdun richtet, ihren Mann, dessen Brief sie erhalten habe und dem sie mitteilt, sie sei wieder «in unserem Heimatland». Eine Rahmensituation: Mit den knüpfenden Händen wird der Film auch enden.

In the crosswind 3

Vom Anfangsrahmen aus geht der Blick zurück. Die Erinnerung an die Lebendigkeit des letzten Sommers, bevor das Leben in Erstarrung fiel. Der Schwenk über einen blühenden Apfelbaum, das Weiterschwenken auf eine Obstbaumwiese in hellem Licht, auf der die Frau an einem Gartentisch sitzt, darauf ein Tagebuch und Briefe. Bilder vom häuslichen Familienleben folgen. Stumme Szenen, nur die Stimme der Frau spricht dazu aus dem Off. Die Hände des Mannes, die ein Kleiderband um die Taille seiner Frau schnüren, das sie «für immer zusammenhalten soll». Ein Dingsymbol, das sich als Leitmotiv durch den Film zieht.

Als Rückenfiguren sieht man die kleine Familie – die Frau, ihren Mann, die kleine Tochter – im Boot auf dem Fluss und ein letztes Mal in Bewegung. Dann überstrahlt das Bild, verschwindet in einer Weissblende. Heftiges Klopfen an einer Tür. Die Soldaten sind da. Alles Leben erstarrt. Ab da erzählt der Film den bevorstehenden Leidensweg nur noch in Tableaux vivants. Erst am Ende des Films werden die Bilder wieder lebendig werden, wenn die Frau – nach fünfzehn Jahren in der Gefangenschaft – in ihre Heimat zurückgekehrt ist, aber allein.

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Aus der Subjektivität ihres Gefühls erschliesst sich die Ästhetik des Films. Die Zeit steht still in den Jahren der Gefangenschaft. Der Körper friert ein in der Kälte der Fremde, während die Seele, vom Körper getrennt, ganz verloren, wartend, in der Heimat zurückbleibt. Das ist die Kernmetapher, aus der der Film – wie ein Requiem – seine elegische Poesie entfaltet. Das immer gleiche Zeitlupentempo der Kamera, oft in Linksbewegung; dazu die Stimme der Frau; das alles durchgängig in Schwarzweiss.

Ein subjektives Gefühl, das eine kollektive Erfahrung widerspiegelt. Der Film beleuchtet ein düsteres Kapitel der baltischen Geschichte. Im Juni 1941 entsendet Stalin russische Truppen zur «ethnischen Säuberung» (so im Vorspann zu lesen) einer ganzen Region. Massenweise werden Menschen aus Estland, Lettland und Litauen nach Sibirien deportiert. Heimkehren werden nur wenige. Und auch die Okkupation fordert ihren Blutzoll. Der Film ist (so der Nachspann) «den Opfern des sowjetischen Holocaust gewidmet».
Martti Heldes Spielfilmdebüt war eine der grossen Entdeckungen des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg. Ein Film, dem man wünscht, dass er in die Kinos findet.

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