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El botón de nácar

Patricio Guzmán, 1941 geboren, ist einer der bedeutendsten Cineasten Chiles und einer der grössten Dokumentarfilmer der Gegenwart. Wie der 2011 verstorbene Raúl Ruiz verstand Guzmán ­seine filmische Praxis stets als einen eigentlichen acte de résistance. Hat sich der militante Gestus heute erschöpft? Keinesfalls, El botón de nácar ist ein filmischer Essay von stupender lyrischer Kraft.

Text: Patrick Straumann / 15. Juli 2015

Patricio Guzmán, 1941 geboren, ist einer der bedeutendsten Cineasten Chiles und einer der grössten Dokumentarfilmer der Gegenwart. Wie der 2011 verstorbene Raúl Ruiz – mit dem er das Geburtsjahr teilt – hatte er sich während der chilenischen Diktatur nach Paris begeben, doch während Ruiz sein in den Exiljahren entstandenes Werk der barocken Tradition Lateinamerikas verschrieb, verstand Guzmán ­seine filmische Praxis stets als einen eigentlichen acte de résistance: Sowohl La batalla de Chile (1975–1979 in Zusammenarbeit mit Chris Marker) als auch Chile, la memoria obstinada (1997) und El caso Pinochet (2001) sind genuin politische Produktionen, die dazu beitrugen, dass der Sturz Allendes und die darauffolgenden bleiernen Jahre auch in der Film­geschichte eine bleibende Spur hinterliessen.

Hat sich der militante Gestus heute erschöpft? Keinesfalls, lässt sich erkennen, auch wenn der Filme­macher seine visuelle Sprache seit einigen ­Jahren einer radikalen Neuorientierung unterzogen hat. El botón de nácar ist – wie bereits sein Vorgänger ­Nostalgia de la luz – ein filmischer Essay von stupender lyrischer Kraft, ein Werk, das die nationale Vergangenheit einer akribischen Betrachtung unterzieht und sie mittels asso­zia­tiv hergeleiteter Zusammenhänge nachvollziehbar macht. Die Katastrophe der Diktatur als Echo des Genozids der Gründerzeit: Die These ist gewagt, dennoch wird es Guzmán gelingen, seine polyphone Demon­stration mit einem «richtigen Bild» zu Ende zu führen.

Es sind die Tiefen der pazifischen Gewässer, die es dem Film erlauben, die verschiedenen Zeiträume und -masse zueinander in ein Verhältnis zu setzen. Chile, äussert sich hier ein Historiker, habe sich als nationale Konstruktion «dem Ozean abgewandt» und das Territorium in eine abgeschottete Insel verwandelt. Diesem Befund stellt Guzmán die tradierte Lebensweise der patagonischen India­ner gegenüber, die einst im Kajak zwischen den archipel­artigen Ausläufern der Andenkordilleren zirkulierten: In sensiblen Gesprächen mit Überlebenden der Urbevölkerung lässt der Regisseur eine verschwundene Welt aufsteigen, in der die Kinder mit acht Jahren das Kap Hoorn umrudert hatten und auf ihren Reisen gegebenenfalls wochenlang auf unbewohnten Landstrichen das Ende der Regen­fälle abwarten mussten. Strahlende Aufnahmen der Araukarienwälder und der schneebedeckten Gebirgshänge im Süden zeigen Chile in diesen Sequenzen als ein verlorenes Paradies, dessen Flüsse und Meeresarme für die einstigen Bewohner ein Synonym für das Leben waren.

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Als Vertreter der chilenischen Mittelschicht, der es in seiner Jugend liebte, «während seiner Aufenthalte im Süden des Landes die Niederschläge auf das Blechdach prasseln zu hören», bietet ­Guzmán nun seine eigene Biografie an, um die gespaltene Identität seines Landes erfahrbar zu machen: Ein Schulfreund, der in seiner Adoleszenz beim Schwimmen zwischen den Riffen ertrank, wurde zu seinem «ersten Verschwundenen». In denselben Jahren machten ihn seine Lektüren mit dem Leben des «einzigen India­ners des 19. Jahrhunderts vertraut, dessen Schicksal von der Geschichte überliefert ist»: «Jemmy Button» war ein junger Feuerländer, der seinen Übernamen der Tatsache verdankte, dass er vom englischen Admiral FitzRoy seinen Angehörigen für einen Perlmuttknopf abgekauft und nach ­einer langen Überfahrt auf der «Beagle» in ­London dem Königs­haus vorgestellt wurde. Die Reise, die diesen «von der Steinzeit ins Zeitalter der ­industriellen Revo­lution» katapultiert hatte, wird hier zur Metapher des europäischen Rassendenkens, das während der Kolonisierung Patagoniens zu ­einem eigentlichen Massenmord an der indianischen Bevölkerung führen sollte.

Für das Chile der Pinochet-Ära wiederum hat der Ozean eine andere Bedeutung: Guzmán beginnt seine Rekapitulation der jüngeren Geschichte mit der Entdeckung der Opponentin Marta Ugarte, deren Körper eines Tages vom Humboldtstrom ans Ufer geschwemmt wurde. Ihre mirakulöserweise intakten Augen, die «ihre Peiniger und die Gegenwart gleichermassen anzusehen scheinen», lösen hier eine filmische Recherche aus, die das Ausmass und die Methode der militärischen Unterdrückungspolitik umreissen wird: Überlebende der über 800 Gefängnisse berichten von ihren Lagererfahrungen, der Regisseur befragt überdies einen Gerichtsmediziner sowie einen Helikopterpiloten, der die Opfer aufs ­offene Meer hinausflog, um sie dort in den Fluten zum Verschwinden zu bringen.

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Seine Stringenz bezieht der Film durch die formale Gestaltung, die auf den in Schnitt und Kommentar vollzogenen untergründigen Verbindungen beruht. Die wogende Oberfläche des Meeres führt zur Feststellung, dass «sich die Denkbewegungen, wie der ­Ozean, allem anzupassen vermögen», die Teleskope in der Atacama-Wüste erinnern an die Koinzidenz, dass sich der Militärputsch von 1973 «zeitgleich mit der Explosion einer erdnahen Supernova» ereignete, was es der Regie wiederum ermöglicht, auf Foto­grafien der Selknam-India­ner zu schneiden, die sich ihren Körper mit Sternbildern bemalten, da sie glaubten, dass ihre Vorfahren in den Konstellationen weiterleben würden.

Als Totenmesse kann man auch diese Dokumentation verstehen. Wie lässt sich in den disparaten Splittern des Films eine gemeinsame Geschichte erkennen? Am Ende wird Guzmán die Ermittler begleiten, die nach den ins Meer geworfenen Opfern suchen. Die Taucher fördern die Eisenbahnschienen, an die die Toten gefesselt waren, an die Wasseroberfläche – die Körper sind verschwunden, einzig ein Perlmuttknopf, im Rost und in den Muscheln gefangen, die die eine Schiene überwachsen, zeugt noch vom Verbrechen. Es ist ein atemberaubender Moment, der den Genozid an den Indianern und die politischen Morde unter der Militärdiktatur nun auch visuell zusammenfallen lässt. In seiner Brisanz erinnert das Bild an die Zeilen Ariels in Shakespeares «Sturm»: «Full fathom five thy father lies / Of his bones are coral made / Those are pearls that were his eyes / Nothing of him that doth fade». Hier verweisen die Perlen nicht auf den Vater, sondern auf die Schlagschatten der Vergangenheit, auf das Erbe ­eines «herzlichen und blutdurchtränkten» Landes, dem Guzmán nun ein leuchtendes Requiem gewidmet hat.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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