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Nichts passiert

Wer nicht an die Zweideutigkeit des Titels glaubt, der wird in Nichts passiert bald eines Besseren belehrt. Denn dieser Film erzählt davon, dass ständig etwas passiert.

Text: Michael Pekler / 17. Jan. 2016

Wer nicht an die Zweideutigkeit des Titels glaubt, der wird in Nichts passiert bald eines Besseren belehrt. Denn dieser Film erzählt davon, dass ständig etwas passiert. Und dass für Thomas am Ende nichts mehr so ist, wie es war, weil er die ganze Zeit versucht hat, etwas vor den anderen zu verheimlichen – denn was passiert ist, kann er nicht mehr rückgängig machen.

Es ist Winter, und auch wenn die Schweizer Skipisten sich in freundlichstem Licht präsentieren, rollt auf den Familienvater eine Lawine an Ereignissen zu, die bereits vor der Abfahrt zu Hause losgetreten wird. «Natürlich gibts da Unstimmigkeiten hin und wieder», hört man ihn zu Beginn sagen, «aber alles in allem gehts uns deutlich besser. Da bin ich ganz optimistisch.» Wenn man Thomas im nächsten Augenblick erstmals zu sehen bekommt, glaubt man ihm kein Wort. Ein Mann mittleren Alters sitzt vor uns, leger gekleidet, aber so angespannt, dass man ihm – im Gegensatz zur Therapeutin – am liebsten vom geplanten Urlaub mit Ehefrau und Tochter dringend abraten möchte. Dass er obendrein die ebenfalls 15-jährige Tochter seines Chefs eingeladen hat, um diesem aus Eigennutz einen Gefallen zu erweisen, macht die ohnehin prekäre Stimmung nicht besser.

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Alles, was Thomas sein will, sei ein «normaler, netter Mann». Das ist eine an sich schon hohe Erwartung, für einen Literaturkritiker, der sich hauptsächlich mit Werbetexten und spöttischen Kollegen herumschlagen muss und dessen Ehe auf der Kippe steht, bedeutet das jedoch eine beinahe unerfüllbare Vorgabe an sich selbst. Und so erweisen sich bereits die ersten Schwierigkeiten bei der Anfahrt als deutliche Hürden, die Regisseur und Drehbuchautor Micha Lewinsky wie kleine Unfälle in die Erzählung einbaut. Während Thomas sich noch in Zweckoptimismus übt und Landschaft und Wetter lobt, bietet ihm seine Frau Martina stets Paroli: hier ein Versäumnis, da eine Nachlässigkeit, dort ein nicht eingehaltenes Versprechen. Tochter Jenny und Sarah sind einander bis zur abendlichen Party im Dorf – wohin Thomas die Mädchen fährt, um sich gegen den Willen seiner Frau zu behaupten – gleichgültig. Ab dann ist alles anders, weil hier sehr wohl etwas, und zwar Schreckliches passiert.

Nichts passiert ist ein Film, der vor allem an seinem Drehbuch und an seinem Hauptdarsteller gemessen werden wird. Denn die vielen kleinen Komplikationen, die als Schneeballeffekt bis zur grossen Katastrophe über Thomas hereinbrechen, verlangen Devid Striesow einiges ab: Dieser im Grunde unsichere Mann, der alles richtig und es allen recht machen will, versucht stets, als verantwortungsvoller Mensch zu handeln, er würde sogar – «wenn es wirklich stimmt», wie er Sarah erklärt – seine ohnehin auf dem Spiel stehende Existenz aufgeben. Doch immer wieder laufen die Dinge für ihn anders, läutet im entscheidenden Moment das Mobiltelefon oder zieht ihm der Zufall den Kopf aus der Schlinge.

Einem Mann ausser Kontrolle geraten die Dinge ausser Kontrolle – so oder ähnlich könnte man diesen Film beschreiben, der sich von einem Familiendrama immer weiter Richtung Genrefilm entwickelt. Das verlangt der Erzählung einige, leider nicht immer glaubwürdige dramaturgische Volten ab und Lewinsky einiges Geschick, die Figurenentwicklung, vor allem jene der selbstsicheren und starken Ehefrau, nicht aus den Augen zu verlieren. Immer enger zieht sich das Netz aus Lügen und Täuschungen, das Thomas spinnt, um ihn selbst zusammen; immer häufiger gilt es, Wege – zum Vermieter, zur Polizei, zum Krankenhaus – schnell zurückzulegen. Und wenn sich das rote Auto wiederholt durch die weisse Landschaft ins Tal schraubt und sich die Geschehnisse zunehmend in die Nacht verlagern, wird jede einzelne Fahrt zum Abenteuer.

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Die stärksten Momente des Films sind jene, in denen Lewinsky die Verfassung seines Protagonisten mit dem Zufall kurzschliesst: Kann eine gute Nachricht zugleich eine schlechte sein? Oder eine schlechte eine erleichternde? Für ein moralisches Dilemma bleibt Thomas im Grunde gar keine Zeit. Doch woran scheitert dieser Mann eigentlich? Möglicherweise an seiner Vergangenheit, die abzuschliessen es noch einige Therapiestunden benötigt hätte. Wahrscheinlich an seiner Schwäche, stark sein zu wollen und dafür stets die falschen Beweise zu liefern. Sicher aber an seiner Unfähigkeit, zu sich selbst ehrlich zu sein.

Ein Kontrollverlust könne auch als befreiend erlebt werden, meint seine Therapeutin zu Beginn. Am Ende hat dieser Mann noch viel mehr verloren.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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