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Ma Loute

«Will noch jemand einen Fuss? Nein? Vielleicht den grossen Zeh?» Inzest und Kannibalismus, Bruno Dumont überschreitet Grenzen und bleibt sich damit treu.

Text: Philipp Stadelmaier / 27. Okt. 2016

Sommer 1910. An der nordfranzösischen Opalküste treffen zwei Familien aufeinander: die proletarischen Bruforts und die grossbürgerlichen Van Peteghems, die ihre Ferien hier verbringen. Die Bruforts fressen Menschen, die Van Peteghems leben in schierem Inzest. Zwischen ihnen: ein Kommissar, der mit seinem Assistenten das fortgesetzte Verschwinden mehrerer Personen untersucht.

Auf den ersten Blick liegt die Komik von Bruno Dumonts Film allein in der Verschiedenheit der drei Parteien, die in Sprache, körperlichem Gebaren und Mimik zur sozialen Karikatur überzeichnet sind. Die wilden Bruforts grunzen eher, als dass sie sprechen, während André Van Peteghem Wörter wie «sublim» und «pittoresk» nur mit gespreizten Lippen und steifem Hals von sich gibt. Diese beiden Welten prallen nun aufeinander, denn es kommt zu einer Affäre zwischen Ma Loute Brufort, dem ältesten Sohn der Menschenfresser, und Billie Van Peteghem, bei der nie klar wird, ob sie Mann oder Frau ist: eine Frau in Jungenkleidern oder ein Junge in Kleidern einer Frau.

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Abgesehen von dieser Affäre aber stellt Dumonts Montage noch eine viel essenziellere, körperlichere Verbindung zwischen beiden Familien her. Wenn die bourgeoise Horde in einem Automobil den vom Strand heimkehrenden Bruforts begegnet und Isabelle beim Anfahren nach hinten geworfen wird, dann findet dieser Schock in der Folgeeinstellung sein Echo, in der Ma Loute tüchtig auf den Boden spuckt. Diese Reperkussion schafft eine Mechanik, in der zwei Teile einer Maschine ineinandergreifen und sie so zum Laufen bringen, so wie das Automobil in diesem Moment erneut anfährt. Beide Familien ähneln sich ausserdem in einem entscheidenden Punkt: Anthropophagie und Inzest sind gleichermassen Obsessionen, das Selbst nur aus sich selbst heraus zu ernähren und zu reproduzieren – sei es bezüglich des menschlichen Körpers oder der Mitglieder der eigenen Familie. Gemeinsam bilden sie diese «Maschine», die nur ein Ziel kennt: sich immer weiter auszudehnen, alles zu verschlingen, sich nur aus sich selbst heraus zu erhalten.

Zum einen sind da also die Bruforts: Ihre Münder sind blutverschmiert, ihre Gesichter hart, sie ähneln Tieren, sind «erdverbunden». Die feinen Van Peteghems ähneln hingegen entrückten, schwerelosen Gestalten, deren Körper schon mal vom Boden abheben – wie jene von Isabelle oder Aude. Während sich die Bruforts also die materielle Sphäre einverleiben, eignen sich die Van Peteghems eine luftige, geistig-spirituelle Sphäre an, die von ihren Körpern (durch das Phänomen der Levitation) nach und nach besetzt wird.

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Das Materielle und Luftig-Geistige vereint dabei die Figur des Kommissars Alfred Machin, «Monsieur Irgendwer». Der Mann hat einen gewaltigen, immer weiter anschwellenden Körperumfang: Sein kugelrunder Leib kullert erst durch die Gegend, bis er am Ende wie ein Luftballon in den Himmel aufsteigt. Machins gewaltiger Rumpf ist in Wahrheit ein enormer Luftballon; wenn er sich beschwerlich fortbewegt, kann man deutlich das Gummi hören. Wenn seine Levitation am Ende auch als Wunder verstanden werden kann, wird hinter diesem gleichsam die materielle Sphäre deutlich, die dieses Wunder, diese Sphäre eines mystischen Spektakels, überhaupt erst produziert.

Monsieur «Irgendwer» ist aber weniger eine bestimmte Figur. Eher ist er, wie es am Ende mit einem Wort von Victor Hugo von ihm heisst, «une force qui va», eine reine Kraft. Der aufblähende Bauch des Kommissars ist eine sich ausdehnende Kraft, die den Film bestimmt und die auch die ausdehnende Macht des Regisseurs Dumont ist, der seinen Film beherrscht: ebenso die mystische Seite wie die materielle, das Wunder der Levitation und das aufblasbare Gummi, das Spektakel und seine Produktion. Ma Loute ist die Darstellung des Versuchs eines Regisseurs, die Grenzen seines Werks zu bestimmen und zu kontrollieren – womit sich diese immer weiter ausdehnen, wie der Körper des Kommissars.

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Der verliert aber am Ende alle Luft und saust zur Erde zurück. Und überhaupt wäre dies alles nur formalistische Spielerei, wäre da nicht diese andere, wilde Seite des Films, die dort einsetzt, wo die Grenzen überschritten, multipliziert und nicht mehr kontrolliert werden können. Es geht viel um Passagen in Ma Loute: Immer wieder tragen die Bruforts Touristen über eine Furt, um sich ein Zubrot zu verdienen, und diese Passage ist eine unter vielen weiteren, wie etwa die Passagen zwischen den beiden Familien oder den ständig wechselnden Identitäten der transsexuellen Billie. Neben dieser geschlechtlichen Travestie ist auch soziale Zugehörigkeit hier die reinste Farce: Es geht weniger um den Kampf zweier sozialer Klassen als um Körper, die in Kostüm und Travestie ihr distinktives, immer überzeichnetes Klassenmerkmal finden. Überhaupt überschreitet der Körper in diesem Film immer wieder seine Grenze, verformt sich, kann sich nicht bei sich halten – wie der sich aufblähende Kommissar, der unkontrolliert durch die Gegend rollt, oder die Körper von Fabrice Luchini, Jean-Luc Vincent, die steif und bewegungsunfähig auf Liegestühle niederknallen, gesteuert allein von der Schwerkraft. Am deutlichsten übertreten werden die Grenzen des Körpers freilich in jener Szene, in der Mutter Brufort die Einzelteile eines Opfers der Familie ihren Kindern zum Abendessen anbietet: «Will noch jemand einen Fuss? Nein? Vielleicht den grossen Zeh? Den kleinen Zeh? Die Ferse?»

Auf diese Weise inszeniert Dumont gleichsam die Zerstörung seines autarken, sich stetig ausdehnenden Filmtempels. Ein Bild für diesen Tempel wäre das «Typhonium», die Villa der Van Peteghems im ägyptisch-ptolemäischen Stil, benannt nach der sogenannten «Wunderknolle», die ohne Wasser und Erde Blüten treiben kann, sich also nur aus sich selbst heraus produziert und permanent ihre Einheit und Selbstheit ausweist. Dumonts Film kann aber die Szene der Einheit und der Kontrolle der Grenzen seines Kinos nur durchspielen, indem er diese permanent überschreitet.

So wird bei ihm die Komik zum Metagenre des Kinos. Das ist auf andere Art auch in der amerikanischen Komödie seit Anfang dieses Jahrhunderts der Fall. Hier bewohnen cinephile Hauptfiguren ein vi­­suell wenig innovatives Universum, das weniger durch einzelne «Werke» als das Zirkulieren und Neuverketten von Referenzen bestimmt wird. Dumont, wie Wes Anderson oder früher Jerry Lewis ein manischer Fetischist, torpediert das Werk eher von innen heraus: Soll das Kino heute Kunst sein, also die Maschine eines Regisseurs, der die Kontrolle über die Grenzen seines Werks hat, muss es an diesen Grenzen zur Farce werden.

Die «Kunst» ist in Ma Loute jedenfalls sehr präsent. Über dem Anblick eines Fischers vergisst André das Omelette, das vor ihm steht, und gerät über dieser «Inkarnation der totalen Schönheit» in ästhetische Verzückung. Aber die Kunst schlägt zurück. Sie verschlingt einen, während vor einem das Essen kalt wird.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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