Filmbulletin Print Logo
Wolfsheep 01

Wolf and Sheep

Die junge afghanische Regisseurin Shahrbanoo Sadat erzählt in ihrem poetischen Erstling von Kindern, die Schafe hüten, und von Wölfen, die ihren Pelz ablegen und zur Fee werden. Doch überall lauern noch gefährlichere Wesen.

Text: Dominic Schmid / 23. Nov. 2016

Die Geschichte spielt in Afghanistan, genauer in einem kleinen Dorf im gebirgigen afghanischen Hinterland, einem Ort also, der uns einer der entferntesten und nächsten zugleich ist. Nah wegen seiner Dauerpräsenz in den Nachrichten, auch wenn man diese gerne überliest. Es ist eine Welt von früher, als man für das Unerklärliche noch Geschichten erfand, wie etwa die vom Kaschmir-Wolf, der nachts seinen Pelz ablegt und in der Gestalt einer grünen nackten Fee die Dörfer heimsucht und die Leute verzaubert, den Armen hilft und die Reichen bestraft. Die Menschen erfinden diese Geschichten und glauben sie gleichzeitig, weshalb die junge Sediqa, deren Grossmutter einst von einem bösen Schlangenwesen verführt worden sein soll, als verhext gilt und von ihren Gespielinnen ausgegrenzt wird. Manchmal hat die Ächtung ganz profane Gründe, wie beim elfjährigen Qodrat, dessen Vater zu Beginn des Filmes stirbt und dessen Mutter folglich einen neuen Mann heiraten muss, der bereits zwei Frauen hat. Das entspricht zwar der Tradition, macht den Jungen aber trotzdem zum Aussenseiter.

Wolfsheep 02

Sediqa und Qodrat treffen sich im Gebirge und freunden sich an, obwohl Jungen und Mädchen sich eigentlich nicht miteinander abgeben sollten. Die Geschlechterrollen werden schon im Kindesalter klar definiert: Die Mädchen hüten Ziegen und Schafe, schauen, dass keines (und niemand) ausschert; die Jungen üben mit selbst geknüpften Steinschleudern für den Ernstfall, für den Angriff auf die Herde durch einen Wolf, von denen es in der wilden, unwirtlichen und majestätisch schönen Gegend zuhauf gibt – deshalb auch die Legenden. Wenn trotz aller Vorsicht einmal eins der Schafe gerissen wird oder das ungeschickte Hantieren mit einer Steinschleuder schmerzhaft ins Auge geht, hat das Dorf ein ausgeklügeltes System parat, den oder die Schuldigen zu bestrafen und die Leidtragenden zu entschädigen, auf dass sich etwaige Konflikte friedlich lösen lassen und die Gemeinschaft nicht nachhaltig bedroht ist.

Wolf and Sheep nimmt diese sozialen Mechanismen wie auch Mythen und Glauben der Leute ernst. Die Inszenierung der grünen Fee und des mythischen Kaschmir-Wolfs ist nicht irrealer oder traumartiger als jene des Dorfalltags oder der eigenen Welt der Kinder auf den Hügeln. Falls der Film überhaupt einen Gegen­satz aufmacht, ist es der zwischen Natur und Zivilisation, wobei die Trennlinien im afghanischen Hinterland deutlich unschärfer sind als anderswo. Es ist nicht mehr Rousseaus Naturzustand, der bei den Kindern in den Bergen herrscht. Zu viele Elemente der Zivilisation haben sie bereits mit hinaufgetragen. Doch dafür, dass sie sich hier wirklich festsetzen könnten, ist die Gegend zu abgelegen, zu unwirtlich. Die Regisseurin weiss das und stellt die Landschaft sowohl in ihrer alles dominierenden Präsenz dar als auch als etwas, das in die Gesichter und Körper der Menschen eingeschrieben ist und das ihr Aufwachsen, ihr Handeln und ihre Beziehungen zueinander von Anfang an mitbestimmt.

Wolfsheep 03

Die gerade mal 26-jährige Shahrbanoo Sadat zeichnet bei diesem wunderbaren Film nicht nur für Regie und Drehbuch, sondern hat ihn auch gleich selbst produziert. Damit entspricht sie so gar nicht dem Klischee des sozial im Mittelalter stehen gebliebenen Landes, in dem Frauen weder etwas zu sagen noch zu träumen haben. Im Jahr 2001, als gerade die ersten Bomben auf Kabul fielen und die amerikanischen Truppen begannen, etwas planlos und blind für die kulturellen Gepflogenheiten der einheimischen Bevölkerung nach dem Urheber des 11. Septembers zu suchen, zog die Tochter afghanischer Flüchtlinge in Teheran in ein kleines afghanisches Dorf, nicht unähnlich jenem des Films. Dort fand sie sich als Aussenseiterin wieder, wegen ihrer Brille und ihrer Fremdheit von den anderen Kinder gehänselt – Erfahrungen, auf denen mitunter ihr Film basiert. Die Realität ist bereits ohne den Krieg ringsherum traumatisch genug.

Es ist also keine Idylle, die da irgendwie aus den Fugen gerissen wird am Ende des Films, als Männer mit Waffen gesichtet wurden und das ganze Dorf mit Sack und Pack, Esel und Ziegen eiligst seine Heimat verlässt. Und doch hat man das Gefühl, die Kinder hätten vielleicht irgendwann aus den festgefahrenen Mustern ausbrechen können – dem Aberglauben, den Gerüchten, den Ausgrenzungen – wenn man sie nur gelassen hätte. Doch die Welt hat, nicht nur in Afghanistan, offenbar andere Pläne.

Wolfsheep 04

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

18. Mai 2011

Les émotifs anonymes

«Gleich und gleich gesellt sich gern», sagt der Volksmund. Tatsächlich möchte man meinen, dass, wo verwandte Seelen aufeinandertreffen, auch die Herzen locker zueinanderfinden. Das mag in 99,9 Prozent aller Fälle so sein. Nicht jedoch in Les émotifs anonymes von Jean-Pierre Améris.

Kino

15. Dez. 2019

Adam

Kulinarisches Kino fern von Wohlfühlkitsch – Maryam Touzani verknüpft in ihrem Langfilm­debüt die Themen Backen und Schwangerschaft.

Kino

03. Nov. 2021

Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich

Schweizer Künstler*innen von Rang, denen noch kein Dokumentarfilm gewidmet wurde, sind mittlerweile rar. Dass es Harald Naegeli so spät trifft, ist eher überraschend. Nathalie David nutzt die wohl letzte Gelegenheit.