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I, Daniel Blake

Ken Loach hat nach seinem letzten Film nochmals einen letzten Film gemacht und ist damit ganz zu seinen Anfängen zurückgekehrt: zu einem engagierten Film, der an die ­Menschlichkeit appelliert.

Text: Susie Trenka / 08. Dez. 2016

«Können Sie mehr als 50 Meter weit gehen?» «Können Sie Ihren Arm hochheben, als ob Sie einen Hut aufsetzen würden?» Mit solchen und ähnlichen Fragen wird Daniel Blake zu Beginn von Ken Loachs Film von einer Beamtin gelöchert. Der seit einem Herzinfarkt auf Sozial­hilfe angewiesene 59-jährige Schreiner verliert bald die Geduld mit der standardisierten Frageprozedur, bei der sein Herzproblem offenbar nicht vorgesehen ist. Die Dialogszene, die sich zunächst nur hörbar während der Credits auf schwarzem Hintergrund abspielt, macht die grundlegende Dichotomie des Films sofort klar: System gegen Mensch, Rationalisierung gegen Individualität. Und es ist wohl kaum ein Zufall, dass Daniel Blakes Gesundheitsproblem ausgerechnet das Herz ist, denn an dieses appelliert auch der Film unmissverständlich.

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Das Resultat der Gesundheitsbefragung: Blake erreicht nur 12 der 15 Punkte, die für eine weitere Auszahlung der Unterstützungsgelder nötig sind. Doch seine Ärztin erklärt ihn für weiterhin arbeitsunfähig. So hat er die Wahl zwischen einer Berufung gegen den Entscheid einerseits und Arbeitslosenunterstützung andererseits, wobei er letztere freilich nur erhält, wenn er ernsthafte Bemühungen bei der Stellensuche nachweisen kann. Es ist eine Wahl, die keine ist: Eine Stelle darf Blake aus gesundheitlichen Gründen nicht annehmen, und seine Bemühungen um einen Berufungstermin laufen wiederholt ins Leere. Immer wieder schieben Beamte die Verantwortung auf den «decision maker» ab, jene anonyme und unzugängliche Macht, die gesetzeskonform und gleichgültig über das Schicksal der Menschen entscheidet (in den deutschen Untertiteln weniger treffend mit «Sachbearbeiterin» und «Begutachter» wiedergegeben). Schon früh auf seiner Odyssee begegnet der verwitwete Daniel der alleinerziehenden jungen Mutter Katie, die von den Sozialbehörden aus London ins billigere Newcastle verpflanzt wurde und vom Hunger an den Rand der Verzweiflung getrieben wird. Fortan greifen sich die beiden Arbeitslosen gegenseitig unter die Arme, während sie gegen eine fast schon kafkaesk anmutende Bürokratie ankämpfen.

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Dave Johns und Hayley Squires agieren unaufdringlich glaubwürdig als Daniel und Katie, die auch unter widrigsten Umständen versuchen, ihre Würde zu bewahren. Ebenso unaufgeregt wie eindringlich erzählt Loach die Geschichte dieser zwei Vertreter des Prekariats. Schnörkellos inszeniert er ihre graubraune Umgebung aus trostlos-sterilen Büros, baufälligen Wohnungen und unwirtlichen Strassen. Dabei verzichtet er auf Begleitmusik und auf jegliche auffälli­gen filmischen Effekte. Dass noch eine andere Welt existiert, wird nur gelegentlich angedeutet, etwa wenn Schaufenster im Hintergrund für Luxusprodukte werben.

Zyniker mögen Loachs naturalistisches Sozialdrama als einseitig, plump und polemisch abtun. Der Film trägt seine unverblümte Kritik an der Unmenschlichkeit des Systems ohne die geringste Ironie oder Distanz vor und unternimmt keinerlei Anstrengung, irgendetwas zu relativieren. Armut und Hunger existieren auch in reichen Ländern, schuld ist der Staat, und die einzige Hoffnung liegt in zwischenmenschlicher Solidarität. So simpel diese Botschaft auch daherkommt, so wenig lässt sich dagegen einwenden. Gewiss hat der Film einige Schwachstellen in Dialog und Figurenzeichnung. So wird Blakes Unbeholfenheit im Umgang mit Computern etwas zu häufig bemüht. Und wenn er beim Arbeitsamt beteuert, er hätte sein Bestes getan, und die Beraterin eiskalt entgegnet, das sei nicht gut genug, so wirkt das auf den ersten Blick hölzern und übertrieben – bis man erfährt, dass das britische Sozialsystem tatsächlich geradezu darauf angelegt ist, nicht zu funktionieren. Angestellte sind gezwungen, möglichst viele «Klienten» zu sanktionieren – sprich, ihnen die Gelder zu kürzen – unter welch absurden Vorwänden auch immer. Loach hat für seinen Film ausgiebig recherchiert, und Stimmen von Betroffenen, die die Wirklichkeitsnähe seiner Darstellung bestätigen, sind leicht zu finden. Dass in der Realität wohl nicht alle Sozialhilfebezüger so sympathisch sind wie Dan und Katie, schmälert die Relevanz und Aktualität von Loachs leidenschaftlicher Gesellschaftskritik nicht. Ohne übermässig auf die Tränendrüsen zu drücken, vermag der Film zu bewegen und erinnert uns daran, dass das Persönliche immer auch politisch ist. I, Daniel Blake ist ein weitgehend überzeugender, inständiger Appell an die Menschlichkeit – mit Herz.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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