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Thomas Vinterberg präsentiert mit der Figurenkonstellation seines jüngsten Films eine Art Umkehrung seines Dogma-Klassikers Festen (1998). Während dort anhand einer Familienzusammenkunft die Verlogenheit der Gemeinschaft gnadenlos demontiert wird, ist es hier das aufrichtige Bemühen um Ehrlichkeit, Grosszügigkeit und Solidarität, das zerstörerische Kräfte entwickelt – sowohl für das Individuum als auch für das Kollektiv.

Text: Susie Trenka / 25. Apr. 2016

Kopenhagen in den siebziger Jahren. Als der Architekturdozent Erik eine stattliche Villa erbt, muss seine Frau Anna einiges an Überzeugungsarbeit leisten, bis er einverstanden ist, in das Haus einzuziehen – gemeinsam mit alten Freunden und neuen Bekanntschaften, die zum Interview vorgeladen und per Abstimmung in die skurrile Hausgemeinschaft gewählt werden. Dieses Kollektiv würde reichlich komisches Potenzial für einen nostalgisch-ironischen oder satirischen Rückblick auf die Siebziger bieten. Doch der von Anfang an ernste Grundton des Films färbt auch seine verspieltesten Momente, wie etwa das gemeinsame Nacktbaden der neu gegründeten Kommune (mit «Join Together» von The Who auf dem Soundtrack). Selbst bei den Befindlichkeitsrunden und Hausversammlungen, wo unter anderem der Bierverbrauch auf der Traktandenliste steht, ist das Komödiantische eher Andeutung, das Lachen bleibt im Hals stecken.

Die von Anna vorgeschlagene Verjüngungskur für den Lebensstil des gelangweilten Ehepaars schlägt unbeabsichtigte Bahnen ein, als sich Erik ohne jegliche Vorwarnung in eine Affäre mit seiner jungen Studentin Emma stürzt. Nachdem Tochter Freja die beiden erwischt, setzt der Ehemann auf Ehrlichkeit. Das Geständnis gegenüber seiner Frau – im Bett – gehört zu den unangenehm bewegendsten Szenen des Films. Die Vertrautheit zwischen dem langjährigen Paar lässt Annas verletzte, aber auch äusserst gefasste, verständnis- und liebevolle Reaktion ebenso nachvollziehbar wie unfassbar erscheinen. Wenig später schlägt sie vor, dass Emma in die Kommune einzieht, und bei einem gemeinsamen Shopping-Ausflug erklärt sie der jungen Rivalin, das Zusammenleben würde doch bestimmt «interessant» werden. Dass dies nicht gut gehen kann, liegt auf der Hand.

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Thomas Vinterberg präsentiert mit der Figurenkonstellation seines jüngsten Films eine Art Umkehrung seines Dogma-Klassikers Festen (1998). Während dort anhand einer Familienzusammenkunft die Verlogenheit der Gemeinschaft gnadenlos demontiert wird, ist es hier das aufrichtige Bemühen um Ehrlichkeit, Grosszügigkeit und Solidarität, das zerstörerische Kräfte entwickelt – sowohl für das Individuum als auch für das Kollektiv. Kollektivet ist von Vinterbergs Erinnerungen an seine Jugend in einer Akademikerkommune inspiriert und basiert auf seinem gleichnamigen Theaterstück. Entsprechend lebt auch der Film weitgehend von den Dialogen und Schauspielern, allen voran Trine Dyrholm als Anna, um deren Leidensweg die Handlung zunehmend kreist. Ihre scheinbar gut gemeinte Toleranz entpuppt sich schnell als ebenso verzweifelter wie selbstzerstörerischer Versuch, ihre Ehe zu retten. Bald bröckelt die Fassade, was auch in ihrem Job als Nachrichtensprecherin versinnbildlicht wird: Während sich ihr Team bemüht, die zusehends nervlich zerrüttete und alkoholisierte Mitarbeiterin für die Fernsehkamera präsentabel herzurichten, entlarvt die Filmkamera in Grossaufnahmen gnadenlos ihren wahren Zustand. Schliesslich bricht Anna Sekunden vor einer Sendung zusammen. Wenn der TV-Bildschirm daraufhin einen «technischen Fehler» anzeigt, wirkt das wie ein bitter-ironischer Kommentar auf das Versagen des sozialen Experiments, das ursprünglich Annas eigene Idee war.

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Dabei scheint es Vinterberg weniger um eine Kritik an den gescheiterten Utopien der Vergangenheit zu gehen – der gesellschaftlich-politische Kontext der siebziger Jahre ist im Film kaum präsent – als um grundlegend zeitlose Probleme des menschlichen Zusammenlebens. Von Anfang an blicken die Figuren häufig in den Spiegel, ins Leere oder aneinander vorbei. So wird subtil ihre Einsamkeit betont, Idealvorstellungen von Kommunikation und Gemeinschaft werden untergraben. Die Kamera verweilt oft in Grossaufnahme auf den Gesichtern, offenbart das verkrampfte Ringen um die richtigen Worte und Reaktionen. Mit grosser Sorgfalt und präzisem Timing wird die beklemmende Hilflosigkeit, die Anna und ihr gesamtes Umfeld zunehmend ergreift, inszeniert. Allerdings sind dabei die Nebenfiguren und -handlungen zuweilen mehr hinderlich als hilfreich. Die eher karikaturartigen Mitbewohner wecken wenig Anteilnahme, und ein beliebig wirkender Subplot um ein herzkrankes Kind ist allzu kalkuliert auf emotionale Wirkung angelegt. Auch die Geschichte um Frejas erste Liebe mag mit ihren gelegentlichen Kitschmomenten nicht vollständig zu überzeugen, ist aber als versöhnlicher Gegenpol zum elterlichen Drama dennoch willkommen. Angesichts des kurzsichtigen, unsensiblen und restlos egoistischen Verhaltens von Erik (von Ulrich Thomsen überzeugend unsympathisch gespielt) mag man sich über Annas Selbstaufopferung wundern. Doch Trine Dyrholm schafft es, den Schmerz dieser Frau glaubhaft zu vermitteln. Ihr in zahlreichen Close-ups eingefangenes Gesicht, in denen sich in kleinsten Regungen ein grosses Schauspiel emotionaler Konflikte entfalten, ist denn auch die Hauptsehenswürdigkeit des Films.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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