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Tschick

Leichtfüssige Coming-of-Age-Geschichte als schräges Roadmovie. Zwei 14-jährige ­Aussenseiter irren mit einem «geliehenen» ­Lada durch den Osten Deutschlands, begegnen allerlei komischen Gestalten und entdecken dabei, was Freundschaft bedeutet.

Text: Tereza Fischer / 14. Sep. 2016

Wolfgang Herrndorfs Buch «Tschick» aus dem Jahr 2010 ist nicht nur ein Bestseller und in den letzten Jahren meistgespieltes Stück auf Deutschlands Bühnen, sondern unterdessen auch Schullektüre. Nun hat Fatih Akin (Im Juli, Gegen die Wand) den Roman auch für die Kinoleinwand adaptiert. Dass es nur eine Frage der Zeit war, deutete sich schon in den Buchbesprechungen an, in denen von Roadmovie die Rede war und das Ende als Hollywood-mässiges Happy End taxiert wurde. Herrndorf selbst hat noch vor seinem frühen Tod die Zustimmung für eine Verfilmung gegeben, wobei er der Meinung war, eine Verfilmung solle sich möglichst freimachen von der Romanvorlage. Das hat Akin nicht getan. Zum Glück.

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Der Film erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte, in der die Eltern bald aus dem Bild verschwunden sind und der Weg fürs Erwachsenwerden frei wird. Der 14-jährige Maik Klingenberg, ein Kind mit Oberlippenflaum, geht in Berlin-Marzahn zur Schule, wo er für die anderen, aber vor allem für seinen Schwarm Tatjana unsichtbar ist. Kurz vor den Sommerferien kommt ein anderer Aussenseiter in seine Klasse: der Russlanddeutsche Andrej Tschichatschow, kurz Tschick. Hochbegabt, aber schon am Morgen besoffen. Da mag sich auch Maik nicht mit ihm abgeben. Als dann Maiks lustige, aber daueralkoholisierte Mutter in den Ferien auf die «Beautyfarm», sprich in die Entzugsklinik, fährt und der Vater sich mit seiner Geliebten aus dem Staub macht, bleibt Maik für zwei Wochen auf sich selbst gestellt. Allein und enttäuscht, nicht auf Tatjanas Geburtstagsparty eingeladen zu sein. Tschicks Familie bleibt im Film eine grosse Unbekannte, man vermutet Verbindungen zur Russenmafia. Trotz dieser Differenzen finden die beiden Alleingelassenen zusammen und unternehmen mit einem «ausgeliehenen» Lada eine Reise ins Blaue, oder besser gesagt: in die Walachei. Auf ihrer Irrfahrt durch den Osten Deutschlands, zu der Raserei durchs Maisfeld, Flucht vor Bauern und Polizisten gehören, begegnen sie komischen Figuren und geraten in aberwitzige Situationen. Es dauert nicht lange, bis man die beiden Hauptfiguren fest ins Herz geschlossen hat und gerne noch viel länger ihre Abenteuer miterleben möchte.

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Herrndorfs Roman bezaubert mit einer schnodd­rigen Jugendsprache, mitreissendem Tempo und liebevollen Details. Das sind beste Voraussetzungen für eine Verfilmung. So sind die Dialoge witzig, gerade wenn die beiden ohne Mobiltelefon und Internet mit ihrem Halbwissen Probleme lösen wollen. Wie bestimmt man mit einer Uhr schon wieder, wo Norden ist? Und wie lässt sich mit einem Schlauch Benzin klauen?

Selbstverständlich nimmt das charmante Roadmovie gegenüber dem Buch Abkürzungen, lässt aber nichts von seinem Charme und den «Sehenswürdigkeiten» aus, von den verschlafenen Landstrassen, den skurrilen Gestalten und der romantisch-abenteuerlichen Atmosphäre. Wenn von einem im Lada vorgefundenen Kassetten-Tape Richard Claydermans kitschige Klaviermusik ertönt, passt sie perfekt zum Ausbruch aus dem Mainstream.

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Akin inszeniert den Ausbruch leichtfüssig, nicht als Blödelkomödie, sondern als liebenswertes Feelgood-Movie mit Tiefgang. Den beiden Hauptdarstellern Anand Batbileg und Tristan Göbel gelingt es, mittels kleiner Gesten Coolsein mit Verletzlichkeit zu verbinden. Auf ihrer Reise entdecken die beiden, was Freundschaft bedeutet, und werden ein ganzes Stück erwachsener. Als die Reise auf der Autobahn bei einem Zusammenprall mit einem Tiertransporter ein jähes Ende findet, haben sie wortwörtlich Schwein gehabt.

Das Happy End? Muss so sein und erfreut nicht nur die Herzen von Teenies, sondern auch die ihrer Eltern.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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