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Ein Paar macht sich auf den Weg in die Idylle, der Unfall mit einem Schaf kommt dazwischen.
Greg Zglinski kennt die Regeln des Suspense-Thrillers und hält sich nicht an sie.

Text: Pamela Jahn / 03. Okt. 2017

Es gibt Filme, denen ist schwer beizukommen. Denn immer wenn man denkt, man hätte das Leinwand­geschehen endlich im Griff, wirft eine Wendung wieder alles aus der Bahn und führt bestenfalls dazu, dass man verdutzt weiterrätselt, wohin einen die Geschichte am Ende wohl hintreiben mag. Realität und Fiktion sind dabei stets ineinander verschlungen, vermischen sich und stossen sich dann gegenseitig wieder ab. Die totale Verunsicherung ist Konzept und Methode in einem. Alles wankt, weil selbst Raum und Zeit keine Ordnung mehr stiften. Nichts ist sicher, schon gar nicht man selbst.

Tiere von Greg Zglinski ist ein unfassbarer Film, verworren, wundersam und faszinierend zugleich, mit Sinn für Humor und einem Hauch von Horror, der sich sanft über die zunehmend bizarrere Handlung legt. Ein kniffliges Genrestück, das sich seiner Wurzeln bewusst ist, diese zitiert und dabei trotzdem gehörig aus dem Rahmen fällt. Wobei man nie den Eindruck hat, der Film wolle damit prahlen, dass er sich bewährten Mustern entzieht.

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Überhaupt fängt alles, wie so oft, recht harmlos an: Nick und Anna wollen für ein halbes Jahr weg aus Wien, um in den Schweizer Bergen ihre angeknackste Ehe zu kitten. Eigentlich. Denn offiziell heisst es, sie – die erfolgreiche Kinderbuchautorin – wolle den Ortswechsel nutzen, um in der Abgeschiedenheit ihren ersten Roman für Erwachsene zu schreiben, während er – der versierte Koch – die kulinarischen Spezialitäten der Region zu erforschen plane. Gleichzeitig hofft Nick jedoch auch, Abstand von Andrea zu gewinnen, der anhänglichen Nachbarin von obendrüber, mit der er seit geraumer Zeit eine Affäre hat. Um die Blumen und Goldfische in ihrer geräumigen Altstadtwohnung soll sich derweil eine entfernte Bekannte namens Mischa kümmern, die, wie sich herausstellt, eine verblüffende Ähnlichkeit mit Andrea aufweist, was ihr bald zum Verhängnis werden soll. Wirklich kompliziert wird es allerdings erst, als das angespannte Paar im Auto auf dem Weg in ihr idyllisches Chalet in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit mit einem Schaf kollidiert. Ein Unfall, der das Tier das Leben kostet, während Anna mit einer Gehirnerschütterung davonkommt und Nick gänzlich unversehrt bleibt.

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Zumindest scheint es so, denn alles, was danach in Zglinskis Film passiert, bleibt im Grunde reine Spekulation. Merkwürdige Dinge passieren, sowohl in der Schweiz als auch zu Hause in Wien, die sich abwechselnd als Traum, Illusion oder vermeintliche Gedächtnislücke entpuppen. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Für Anna bedeutet dieser entwurzelnde Zustand des Dauerdeliriums, dass sie langsam, aber sicher die Welt nicht mehr versteht, und Zglinski zieht gekonnt sämtliche Register Hitchcock’scher Suspense- und Überraschungskunst, um auch die Zuschauer an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Erst sind es Zeitverschiebungen, die sich nicht erklären lassen. Dann werfen Perspektivenwechsel plötzlich noch einmal ein ganz anderes Licht auf immer wieder dieselben Situationen, ohne jemals Klarheit zu schaffen. Im Gegenteil: Die Rätsel verstricken sich nur immer weiter. Unterdessen wird das angefahrene Schaf geschlachtet, ein Vogel begeht Selbstmord, und spätestens in dem Moment, wo eine neunmalkluge schwarze Katze ins Spiel kommt, wird klar, dass Zglinski hier keine wirre Farce um Liebe und Betrug erzählt, sondern vielmehr raffiniert einen Abstieg in die Hölle vorbereitet. Statio­nen eines Zusammenbruchs, surreal inszeniert.

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Die Vorlage zum Film lieferte ein Drehbuch des leider viel zu früh verstorbenen österreichischen Autors und Filmemachers Jörg Kalt, der sich 2005 mit seinem zweiten Langfilm Crash Test Dummies auch über die heimischen Grenzen hinaus einen Namen machte, bevor ihm zwei Jahre später das eigene Leben zu viel wurde. Mit Zglinski, einem polnischen Regisseur, der in der Schweiz aufgewachsen ist, hat nun ein angemessener, ähnlich unangepasster Kopf sein Werk vollendet. Und es ist schon erstaunlich, wie gut sich Tiere in jene Flut von Filmen einfügt, die im gegenwärtigen Kino zwischen Wahn und Wirklichkeit changieren, ohne jemals einen Funken seiner Originalität einzubüssen. Das mag zum Teil an der schlichten Produktion liegen, die bei allen technischen Einschränkungen und Abstrichen eine Dynamik und Bewegungsfreiheit ermöglicht, von der Figuren wie Handlung gleichermassen profitieren. Aber vielleicht würde man dem Film auch weniger Aufmerksamkeit schenken, wenn man sich nicht von Anfang an so bedingungslos der stets exzellenten Birgit Minichmayr anvertrauen würde und wenn je der Eindruck aufkäme, sie spiele die fiebrige Verwirrtheit tatsächlich nur zum Schein. Denn obwohl oder gerade weil Philipp Hochmair ihr mit seiner aal­glatten Vernunftsnummer entsprechend Kontra gibt, schafft sie das Kunststück, dass man sich als Zuschauer ganz und gar mit ihr identifiziert. Dass man sich dreht und wendet in der vergeblichen Hoffnung, den Wirrwarr zu entschlüsseln, und man schliesslich jener trügerischen Wirklichkeit zu misstrauen beginnt, die einen wieder empfängt, wenn man das Kino gute neunzig verschachtelte Filmminuten später wieder verlässt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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