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Drei Zinnen

Drei Zinnen erzählt vor einer gewaltigen Naturkulisse von den Schwierigkeiten, eine Patchworkfamilie zu sein, aus der Sicht des Kindes und des Möchtegern-Vaters.

Text: Aaron Estermann / 27. Dez. 2017

Kaum in der Abgeschiedenheit der stillen Bergwelt angekommen, klingelt das Handy des achtjährigen Tristan: «No, dad, we just arrived.» Ein paar Worte bloss – und klar ist, was die Eröffnungssequenz im Schwimmbad hinter einem herzlichen Miteinander verschwinden liess: Nicht mit Vater und Mutter bezieht Tristan hier ein kleines Ferienhäuschen, sondern mit ihr und Aaron, ihrem Freund.

Aus dieser simplen Exposition entwickelt sich der zweite Spielfilm der deutschen Regienachwuchshoffnung Jan Zabeil zu einem spannungsgeladenen Familiendrama, das vom inneren Konflikt eines Kindes vorangetrieben wird. Weil Tristan weiss, dass eine ideale Familie ebenso wie das titelgebende Gebirgsmassiv aus drei Teilen besteht, ist Aaron eigentlich einer zu viel: «Papa, Mama, Kind» lautet die Formel – und die ist seit zwei Jahren aus dem Gleichgewicht. Da hilft ihm wenig, dass beide, sowohl sein leiblicher Vater als auch der Architekt Aaron, um die Rolle des sozialen Vaters buhlen. Ersterer durch ständiges Anrufen, Letzterer durch Zuneigungsbekundungen und das Bemühen, ein Vorbild zu sein.

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Unten im Tal brachte Aaron Tristan das Schwimmen bei; nun, inmitten der kargen Dolomiten, das Wandern, Sägen und Harmoniumspielen. Dass man dabei gerne zuschaut, liegt nicht zuletzt an den Schauspielern: Insbesondere Alexander Fehling, der schon in Zabeils Debütfilm Der Fluss war einst ein Mensch die Hauptrolle übernahm, verkörpert Aaron und dessen Verlangen, dem Knaben – auch gegen den Willen der Mutter – ein «Papa» zu sein, mit viel Feingefühl. In den Szenen, in denen Tristan seine kindlichen Provokationen auf die Spitze treibt, ist Fehlings respektive Aarons Anspannung förmlich zu spüren: Es kostet ihn viel Mühe, sich trotz Unverständnis und kurzzeitigen Hassgefühlen zurückzuhalten, um einem Rückzug von Tristan, dem er ein guter Vater sein möchte, ja keinen Vorschub zu leisten.

Solche Situationen wiederholen sich, denn Tristan pendelt in der Enge der Berghütte wie auch auf den weiten Wanderungen zwischen Zuneigung und Ablehnung. Beeindruckt von Aarons Wissen und Können fühlt er sich diesem zwar nah. Aber ist das nicht falsch, da er ja schon einen Papa hat? Weshalb überhaupt haben sich die Eltern getrennt? Unbefriedigende bis gar keine Antworten kriegt er auf seine Fragen. Was ihm also bleibt, ist die körperliche – durchaus gewaltbereite – Reaktion: Die Säge setzt Tristan nicht am Ast an, sondern an Aarons Arm. Die Mäusefalle stellt er direkt vor dessen Bett auf. Dem Verstecken der Schnürsenkel folgt ein Kick in die Magengegend.

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Nur wenn es zu viel wird, verliert Aaron die Geduld. Wenn er dann laut wird, sorgt er für die einzigen Ausreisser auf der ansonsten ruhigen Tonspur des Films, die von überlegt gesprochenen Dialogen, dem Summen der Berge und melancholischen Harmoniumklängen geprägt ist. Just auf einen solchen Moment folgt die Katastrophe: Nach einem Streit bei einer Wanderung, die Aaron allein mit Tristan unternimmt, läuft der Knabe davon und geht verloren. War der weiss gekleidete Tristan in der frühsommerlichen, aber noch weiss-grauen Fels- und Schneelandschaft schon so schwierig zu orten, legt sich jetzt auch noch eine dicke Nebeldecke über den Gipfel. So kann Aaron – wie Tristans Vater – nur noch akustisch in Kontakt bleiben. Sein lautes Rufen kommt aber von allen Seiten als Echo zurück, eine Orientierung ist unmöglich.

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Für die Mutter, die in der Hütte geblieben ist, bedeutet der Nebel grosse Sorgen. Die Kamera ist bei ihr, als der Nebel sich so verdichtet, dass nichts mehr zu sehen ist. Was folgt, ist ein ungewöhnliches Schlüsselmoment: Ganze 30 Sekunden dauert die Kamerafahrt durch den undurchdringlichen Nebel – oder handelt es sich doch nur um eine Überblendung ins strahlende Weiss? Ungeheuerlich lange dauert sie auf jeden Fall. Tristans innere Orientierungslosigkeit manifestiert sich hier als weisses Rauschen, das die Zuschauer unerträglich lang aushalten müssen: Gespannt und angestrengt wartet man auf ein Aufklaren, während sich im Kopf alle möglichen Szenen abspielen. In der Aufblende sind die Konturen eines Kindes zu entdecken. Damit ist nicht zu viel verraten, denn das Finale wird aufgrund Tristans nie endender Hin- und Hergerissenheit ungleich furioser sein.

Drei Zinnen diskutiert vor archaisch-bedrohlicher Kulisse mögliche Vaterrollen ebenso wie damit verbundene Kindersorgen. Dies geschieht weniger über Argumente als vielmehr über das genaue Inszenieren von emotionalen Reaktionen im Kontext stets changierender Launen. Ein eindringlicher Ansatz.

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