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Harmonium / Fuchi ni tatsu

Die scheinbar stabile Dreierkonstellation einer Kleinfamilie wird durch einen Fremden aus ihren Fugen gehoben. Koji Fukada lotet in seinem Psychothriller die fundamentale Einsamkeit als Teil des menschlichen Wesens aus.

Text: Natalie Böhler / 15. Feb. 2017

Schon von Beginn weg kündigt sich das Unglück überdeutlich an. Zu Beinahe-Wortlosigkeit erstarrt, frühstückt die Kleinfamilie in der penibel ordentlichen, pastellfarbenen Essküche am penibel gedeckten Tisch, und die Tochter erzählt ihren Eltern von einer Spinnen­art, bei der die Kinder kurz nach der Geburt ihre Mutter verspeisen. Die Mutter ist schockiert, der Vater schweigt teilnahmslos, das Metronom auf dem Harmonium tickt beharrlich in die Stille hinein, die zum Bersten voll ist mit Spannung.

In die offensichtlich unheile, scheinbar hermetisch geschlossene Welt dieser Dreierkonstellation tritt nun plötzlich ein Fremder, der sich bald als gar nicht so fremd entpuppt, sondern ein alter Bekannter des Vaters ist. Dieser nimmt ihn denn sogleich als Aushilfe in seinem Geschäft auf und sogar als Gast im eigenen Haus. Dadurch entsteht eine unmittelbare Nähe zu allen Familienmitgliedern, die das Dreiergefüge ins Wanken bringt. Während Akie, die überkorrekte Ehefrau, sich immer mehr für den Fremden erwärmt und sich ihm öffnet, bleibt Toshio, der Mann, seltsam verschlossen: Er ist der eigentliche Fremde in dieser Erzählung, denn seine Vergangenheit birgt dunkle Seiten, von denen nur der Fremde weiss, und die sein privates Lebenskonstrukt zu sprengen drohen.

Harmonium esstisch

Kôji Fukadas Psychothriller Harmonium ist zu Beginn ganz im typischen Stil zeitgenössischer japanischer Arthouse-Filme seit den Neunzigerjahren gehalten. Sorgsamst durchkomponierte Bilder sind ganz aufs Wesentliche reduziert, Licht und Farbe sind sauber und klar. Nichts ist an der Erzählung zu viel, sie wirkt ausgespart wie ein klassisches, mit treffenden Pinselstrichen gemaltes Tuschebild – und wird deshalb, wie dieses, so absehbar, dass man sich fragt, ob das Ganze denn bereits als Metareflexion, als Studie zu einer bestimmten Stilrichtung gemeint ist.

Das Verhalten der Figuren lässt das Ehe- und Familiengefüge immer mehr bröckeln. Die Deckenlampen werfen immer dunklere Schatten in die Wohnräume, und eine überdeutliche Farbsymbolik kündigt das drohende Unheil mit leuchtend roten Flecken an. Kein Zweifel: Es kommt nicht gut, und so deutlich arbeitet der Film darauf hin, dass man sich als Schreibende hier kaum des Spoilervorwurfs erwehren müsste. Im Gegenteil: Die Absehbarkeit der Katastrophe wirkt je länger, desto stärker kalkuliert, ein erzählerisches und formales Spiel, das der Regisseur mit dem Publi­kum treibt.

Harmonium schrei

Das Böse aus vergangenen Taten Toshios kehrt unerbittlich wieder und verlangt nach Vergeltung. Wie oft im japanischen Film ist es hier an die Yakuza, eine kriminelle Untergrundorganisation, gebunden, die zum symbolischen Träger des ultimativ Bösen und der gesellschaftlichen Schattenseiten stilisiert wird. So hat das absolute Böse seine eigene brutale Logik; Gewalt zieht Rache, also erneute Gewalt, nach sich und kann nicht überwunden werden.

Eigentlich spannend wird Harmonium, nachdem das Unglück tatsächlich eingetreten ist und der Film hier nicht aufhört, sondern noch lange weitergeht. Was geschieht danach? Wie sieht das Leben nach der Familienkatastrophe aus? Hier öffnet sich die bisher starre, formal strenge Erzählung. Die Figuren werden psychologisch vielschichtiger und beginnen einen zu berühren. Das Geschehen wird weniger eindeutig und somit verwirrender. Auch die Bilder werden offener, die Handlung verlagert sich aus den engen Innenräumen hinaus in die Natur, aus der Stadt aufs Land. Kameraführung, Licht und Farben lassen die stilisierte Künstlichkeit der ersten Filmhälfte hinter sich zurück und nehmen einen in Grau- und Brauntönen gehaltenen Realismus an, der mit den kalten Tönen des Filmbeginns kontrastiert.

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Und aus dem Sinnen nach Rache und dem Bussetun des Ehepaars scheint öfters die Frage auf, ob man nicht einfach verzeihen soll, damit das Leiden aller und das Verhaftetsein in Vergangenem doch endlich ein Ende hat. So entwickelt der Film eine ethische Thematik, die zusätzliche Überraschung in die neuen Wendungen der Handlung bringt. Spätestens hier wird Harmonium zu einer interessanten Weiterentwicklung des mittlerweile historischen Yakuza-Thriller-Genres, das Brutalität und gesellschaftlichen Pessimismus als fest gegeben und alles bestimmend setzt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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