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Certain Women

In drei feinsinnig verwobenen Kurzgeschichten erzählt Kelly Reichardt von vier Frauen in Montana. Ein Film über missglückte Kommunikation, Enttäuschungen und Einsamkeit.

Text: Dominic Schmid / 24. Feb. 2017

Zwei junge Frauen reiten gemeinsam auf einem Pferd in einer Kleinstadt irgendwo in Montana. Es ist dunkel, das Licht der Strassenlaternen blitzt hinter ihren Köpfen hervor. Die Reiterin vorne, Jamie (Lily Gladstone), die sich auf einer Ranch um die Pferde kümmert, ist in die hintere verliebt, Beth (Kristen Stewart), die an lokalen Schulen unmotiviert Abendlektionen zum Schulrechtswesen gibt. Der Moment ist leise, poetisch und voll romantischen Potenzials. Leider ist Beth übermüdet, weil die Kleinstadt eine vierstündige Autofahrt von ihrem Wohnort entfernt liegt, und deshalb blind für das melancholische, doch offenherzige Begehren ihrer Mitreiterin. Es ist die schönste Szene in einem wunderschönen Film, in dem die grandiose Landschaft des amerikanischen Nordwestens immer wieder den Eindruck eines Seelenspiegels erweckt. Melancholisch, etwas unnahbar und immer wieder mit den Tücken der modernen Gesellschaft konfrontiert, doch auf ihre Weise majestätisch, unzähmbar.

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Die Szene stammt aus der letzten von drei kurzen Geschichten, aus denen Kelly Reichardts Certain Women besteht und von vier ganz unterschiedlichen Frauenfiguren erzählt. Verbunden sind sie nur durch kleinste Zufälligkeiten, der stärkste Zusammenhang ist das Thema einer missglückten Kommunikation. Missglückt, weil man einander nicht richtig zuhört, sich nicht klar ausdrückt oder einfach andere Interessen und Sorgen hat als das Gegenüber. Das ist manchmal dramatisch, wie in der ersten Geschichte mit Laura (Laura Dern), deren Status als Anwältin immer wieder von ihrem Frausein untergraben wird. Wegen seiner Vorurteile gelingt es ihr einfach nicht, ihrem Klienten klarzumachen, dass seine durchaus legitimen Frustrationen vor Gericht keine Chance haben. Fast enden diese Frustrationen dann in Gewalt, aber Reichardt unterläuft die genreübliche Entwicklung der Entführungssituation lakonisch, sodass es einfach nur traurig endet.

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Die zweite Geschichte ist rätselhafter. Man ahnt, dass der Haufen Sandsteine vor dem Haus eines alten Mannes, die Gina (Michelle Williams) für den Bau ihres neuen Hauses erstehen will, irgendwie Teil von dessen Seele darstellt. Aussprechen kann er dies nicht, so wie er eigentlich das Verhandlungsgespräch sowieso lieber mit Ginas Mann führen würde. Als die Steine schliesslich allem Unbehagen zum Trotz abtransportiert werden und Gina dem hinter dem Fenster stehenden Mann zum Dank oder zur Selbstvergewisserung, hier nichts Schlechtes getan zu haben, zuwinkt, ohne eine Gegenreaktion bleibt, ist unklar, wessen Seele es ist, die hier Schaden nimmt. Gina verharrt auf ihrem eigenen Weg, ist auf ihrer Fahrbahn fest eingespurt, obwohl diese von so vielen eigen- und fremdverschuldeten Hürden übersät ist. Die Auseinandersetzung mit den Gefühlen anderer würde dabei nicht weniger als das Risiko darstellen, von der vorgelegten Spur abzukommen. Dass diese Metapher nicht von ungefähr kommt, zeigt die zentrale Bedeutung, die den langen Autofahrten durch die Landschaft in allen drei Geschichten – wie auch in der ganzen Filmografie von Kelly Reichardt – zukommt. Mit dem Blick auf die Strasse, gegebenenfalls noch in den Rückspiegel, bleibt keine Zeit mehr für jenen auf die Gegenfahrbahn oder auf den Beifahrersitz.

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Es ist vielleicht die deutlichste Gemeinsamkeit der Frauenfiguren in Certain Women. Drei von ihnen – die Anwältin Laura, Mutter und Hausbauerin Gina und die Lehrerin Beth – treffen zu oft auf Widerstände, als sich dann noch eine Rücksichtnahme auf die Gefühle der Männer verkraften liesse. Ob diese eine Rücksichtnahme überhaupt verdienen würden, ist natürlich eine andere Frage. In der letzten Geschichte, die ganz ohne zentrale Männerfigur auskommt, ist Beth von der Mühseligkeit ihres Jobs zu eingenommen, als dass sie die Faszination wahrnehmen könnte, die sie offensichtlich auf Jamie ausübt. Letztere ist vielleicht die geerdetste Figur des Films. Lange, ruhige Einstellungen zeigen sie bei der gewissenhaften Arbeit mit den Pferden auf der Ranch, und die Einstellungen von Lily Gladstones Gesicht, wenn sie mit leuchtenden Augen im Diner Beth gegenübersitzt, gehören zu den berührendsten des ganzen Kinojahrs. Jamie ist auch die einzige, die mit einer solchen Offenheit auf ihr Gegenüber zugeht – allerdings ohne (als ob das überhaupt noch nötig wäre) ihr Begehren sprachlich ausdrücken zu können, sodass sie sich schliesslich tatsächlich für einen Moment buchstäblich aus der Bahn werfen lässt.

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Was eigentlich für alle von Reichardts Filmen gilt, gilt für Certain Women im Besonderen: die grosse und äusserst empathische Nähe zu ihren Figuren, trotz all deren Rätselhaftigkeit (am meisten vielleicht sich selbst gegenüber). Anders als die Gesellschaft, in der sich die Figuren bewegen, und anders als ihr jeweiliges Gegenüber, das nicht aus seiner tunnelartigen Wahrnehmung auszutreten vermag, eröffnet Certain Women einen Blick auf unterschiedliche individuelle Welten, die die Realität so oft kaum hergeben kann. Ist es nicht eine der Hauptfunktionen von gutem Kino: einen Moment lang unseren Blick von unseren eigenen Problemen zu lösen und uns ganz von einem Gegenüber einnehmen zu lassen? Uns im besten Sinne ein wenig von der Spur abzubringen.

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