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Bacalaureat

Niemand ist immun: In seinem aufwühlenden Film stellt Cristian Mungiu der rumänischen Gesellschaft eine beunruhigende Diagnose. Formal beeindruckend und moralisch herausfordernd verleiht er dabei der Korruption ein menschliches Gesicht.

Text: Dominic Schmid / 01. Mär. 2017

William S. Burroughs sagte einmal über die Heroinsucht, sie sei kein psychologisches Phänomen, sondern einfach eine Frage des Ausgesetztseins, der Ansteckung. Er beschreibt sie als Gesellschaftskrankheit, bei der weder gute Vorsätze, repressive Gesetze noch wohlwollende Präventionsmassnahmen helfen, wenn man sich zur falschen Zeit am falschen (physischen und metaphorischen) Ort befindet. Nicht viel anders verhält es sich – so lässt sich eine These aus Cristian Mungius Bacalaureat herauslesen – mit der Korruption. «Ich mache sowas nicht», sagen alle und glauben es vielleicht sogar. Doch dann tritt dieser eine Fall ein, die potenzielle Tragödie, die sich offenbar nicht anders abwenden lässt, als die moralisch weisse Weste eben etwas grauer werden zu lassen, auf dass jene der Nächsten ihre Reinheit bewahre. Denn man kennt da jemanden, der jemanden kennt.

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Genau so widerfährt es Romeo Aldea, in seiner transsylvanischen Kleinstadt ein angesehener Arzt. Die Tochter soll aus dem Sumpf von Perspektivlosigkeit und Korruption rauskommen, der das Rumänien der Gegenwart für die desillusionierte Mittelschicht darstellt, wo die Versprechen der Revolution von 1989 schon längst unter den dürftig geteerten Stras­sen begraben liegen. Es sieht auch gut aus: Das Stipendium für die Uni in England in der Tasche, muss sie nur noch die Maturaprüfung mit gutem Notenschnitt bestehen, dann kanns ans Verwirklichen der Träume gehen, die der Generation davor noch vorbehalten waren. Unterwegs zur ersten Prüfung aber dann, den Weg über eine Baustelle abkürzend – ein Angriff durch einen Unbekannten. Traumatisiert und mit verletzter Schreibhand verhaut das Mädchen die erste Prüfung. Der notwendige Notenschnitt, für die begabte Schülerin eigentlich eine Formalität, rückt in fast unerreichbare Ferne. Zum Glück kennt aber der verzweifelte Vater den Polizeichef gut, der einen Politiker kennt, der eine neue Leber bräuchte und auf der Empfängerliste gerne etwas höher rücken würde, und dem wiederum der Schuldirektor noch einen Gefallen schuldet. Ein paar Treffen später die Lösung: Die Tochter soll auf dem Prüfungsbogen einfach unten eine Markierung anbringen, alles andere werde dann geregelt. Jetzt muss nicht nur der Vater, sondern auch die Tochter sich entscheiden, ob ihr neues Leben gleich mit genau jenem Makel beginnen soll, der der ganzen Gesellschaft anhaftet. Die Ansteckungskrankheit droht zur Erbkrankheit zu werden oder ist es wahrscheinlich schon längst.

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Mungiu, einer der Hauptvertreter der rumänischen Neuen Welle, der mit 4 Months, 3 Weeks and 2 Days und [art:beyond-hills-dupa-dealuri:Beyond the Hills] schon Werke vorgelegt hat, die die traumatischen und unausweichlichen Verbindungen zwischen dem Privaten und der Gesellschaft auf filmsprachlich atemberaubende Art sezieren, wirft hier erneut seinen unnachgiebigen Blick auf ein trauriges Phänomen (nicht nur) der rumänischen Gesellschaft. Was den Film von anderen Beschäftigungen mit dem Thema der Korruption abhebt, ist, dass er diese eben nicht als individuelle Verfehlung diagnostiziert, sondern – nochmals Burroughs paraphrasiert – als «so psychologisch wie Malaria». Mit seinem Szenario samt unmittelbar nachvollziehbarer Motivation des nicht unsympathischen Romeo gelingt es ihm, der Korruption ein Gesicht zu geben, in dem wir uns durchaus selbst erkennen können. Dass sie dabei nicht etwa verharmlost, sondern im Gegenteil in ihrer ganzen viralen Zerstörungskraft dargestellt wird, die ganze Gesellschaften unterwandern und zum langsamen Dahinsiechen bringen kann, wird genau da deutlich, wo man, sich in die gleichen Dilemmata hineinversetzend, sich zu den gleichen Entscheidungen hingezogen fühlt.

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Anfang dieses Jahres hat ein Versuch der rumänischen Regierung, die Antikorruptionsgesetze abzuschwächen, die grössten Menschenmassen seit dem Fall der Ceaușescu-Regierung auf die Strassen gebracht. Die Proteste scheinen vorerst erfolgreich gewesen zu sein, der Gesetzesentwurf wurde gekippt. Auch das Schlussbild von Bacalaureat ist hoffnungsvoll: Eine Gruppe Maturanden posiert lächelnd für ein Foto. Doch, das hat der Film eindringlich demons­triert, ist es eine Illusion zu hoffen, die neue Generation wäre durch ihre Erfahrungen immun gegenüber einer Krankheit, die jederzeit und überall ausbrechen kann und gegen die es kaum einen Impfstoff gibt. «Ich mache sowas nicht.» Ein Wort schwingt da immer mit: eigentlich.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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