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Moonlight

Was bedeutet es für einen schwarzen schwulen Jungen, in einem Umfeld von Armut, eklatanter Homophobie und übersteigerten Männlichkeitsvorstellungen aufzuwachsen? Barry Jenkins antwortet auf diese Frage mit einem ebenso kraftvollen wie zärtlichen Film.

Text: Philipp Brunner / 07. Mär. 2017

Es beginnt mit einer Flucht. Und endet mit einem Angebot. Dazwischen liegt, in drei Kapiteln erzählt, die Geschichte von Chiron, der in einer rauen Gegend von Miami aufwächst.

Im ersten Teil ist es das Kind Chiron, das sich in einem verlassenen Wohnblock vor einer Gruppe Gleichaltriger versteckt, die es auf ihn abgesehen hat. Hilfe erhält der Junge ausgerechnet vom Dealer Juan, der ihn erst mal zu sich und seiner Freundin nach Hause nimmt, ihn zur Ruhe kommen lässt. Von nun an wird Chiron öfter hier sein und das erhalten, was er so dringend benötigt: Zuneigung, Anteilnahme, Verlässlichkeit – vor allem aber die Sicherheit, dass ihm nichts passiert, und den Raum, so sein zu dürfen, wie er ist. Das alles ist vollkommen neu für ihn, denn zu Hause erwartet ihn die Unberechenbarkeit einer alleinerziehenden Mutter, die auf Crack ist. In der Schule ist er ohnehin der Aussenseiter, ein einsames Kind, das seine Überlebensstrategien längst entwickelt hat: misstrauen, auf der Hut sein, sich nicht zeigen, fliehen. Einzig in seiner Beziehung zum gleichaltrigen Kevin zeichnet sich die Ahnung einer Freundschaft ab.

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Im Zentrum des zweiten Kapitels steht der Teenager Chiron. Noch immer gehört er nicht dazu, noch immer ist er ein leichtes Ziel für die gewaltbereiten Macker in seiner Klasse. Aber an seiner Schule ist auch nach wie vor Kevin, aufgeweckt, gesprächig, etwas altklug (wie es sich für einen Teenager gehört) und auch ein wenig forsch. Chiron beginnt, sich Millimeter für Millimeter zu öffnen, zu antworten, das beiderseitige Begehren zuzulassen. Und wieder ist da eine Ahnung, diesmal von Nähe, Verliebtheit, Lust.

Das letzte Kapitel zeigt den erwachsenen Chiron. Wortkarg, den Körper zum Panzer gestählt, hält er sich die Welt vom Leib, hat sich eingerichtet in seiner Einsamkeit. Er dealt jetzt wie einst Juan, ist zum Double der einzigen Vaterfigur geworden, die er kannte. Doch wieder ist es Kevin, der unerwartet auftaucht.

Moonlight ist erst der zweite Spielfilm von Barry Jenkins, und es wäre ein Leichtes gewesen, das Drehbuch von Tarell Alvin McCraney, auf dessen autobiografischem Bühnenstück der Stoff beruht, als moralisches Rührstück zu erzählen. Dass es nicht dazu kam, hat mehrere Gründe: Neu an Moonlight ist nicht, dass er die Geschichte eines schwulen Jungen erzählt, der sich mit seiner Sexualität und seiner Umwelt auseinandersetzen muss. Neu ist, dass es sich dabei um einen schwarzen Jungen handelt, der noch dazu in seiner ganzen Verletzlichkeit gezeigt wird. Auch geht Jenkins elliptisch vor, erlaubt sich erhebliche Zeitsprünge und damit das Wagnis, für dieselbe Hauptfigur drei Darsteller zu besetzen. Das Kunststück gelingt auf spektakuläre Weise, denn jeder der Schauspieler fügt sich nahtlos in den emotionalen Spannungsbogen der Geschichte ein. James Laxton wiederum komponiert mit seiner Kamera Farben, Licht und Bewegung zu atem­beraubend schönen Bildern, die immer wieder um eines kreisen: die verzweifelte Gefühlslage eines Protagonisten, «der zwar immer wieder von offenem Raum umgeben ist, sich aber dennoch in sich eingeschlossen fühlt».

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Dazu passt, dass der wohl symbolträchtigste Moment des Films auch einer der berührendsten ist. Als Juan dem kleinen Chiron das Schwimmen beibringt, geht es für das Kind um nichts Geringeres als darum, Vertrauen zu lernen. Laxton zeigt es durch eine Kamera, die vom aufgewühlten Wasser immer wieder überspült wird, zugleich hören wir, wie Juan vor Vergnügen lacht, wenn der Kleine seine ersten Züge erfolgreich bewerkstelligt. Als Chiron wenig später besorgt wissen will, was «eine Schwuchtel» ist und ob er selber eine sei, nimmt die Kamera in schnörkelloser Intensität an Juans Reaktion teil: Es ist die wohl bestmögliche Antwort, die denkbar ist. Momente wie diese verhelfen Moonlight nicht nur zu seiner radikal empathischen Haltung, sondern auch zu einer staunenswerten Gleichzeitigkeit von Behutsamkeit und Geradlinigkeit. Mit sozialkritischer Tristesse oder dokumentarischem Look hat das freilich nichts zu tun: «Es ist eine realistische Geschichte, die aber auch in vielerlei Hinsicht überhöht ist», sagt der Regisseur, für den Moonlight eher «ein Fiebertraum» ist.

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Jenkins sagt von sich, er habe erst während des Drehs realisiert, wie viel von ihm selbst in Moonlight stecke, wie persönlich der Film geworden sei. Als Naomie Harris in der Rolle von Chirons Mutter «wie meine Mom sprach, wie meine Mom aussah, meine Mom war», habe er realisiert, wie sehr dies auch seine Geschichte war. Tatsächlich wissen sowohl Jenkins als auch McCraney sehr genau, wovon sie sprechen: von einem Milieu, das von generationenaltem Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit gezeichnet ist; einem Milieu, in dem die Wut allgegenwärtig ist, ob sie sich nun auf diffuse oder konkrete Art Bahn bricht; einem Milieu schliesslich, in dem sehr klare Vorstellungen über «Männlichkeit» dominieren: Ein «Mann» zu sein heisst stärker, lauter, aggressiver als die Anderen zu sein. Ganz sicher heisst es nicht, verletzlich zu sein, und – natürlich – schon gar nicht, schwul zu sein. Aber Jenkins und McCraney wissen auch, dass Veränderung möglich ist. Darin liegt etwas ausserordentlich Tröstliches, und möglicherweise gründet darin auch die emotionale Wucht ihres Films. Denn letztlich erzählt Moonlight die Geschichte von einem, der sich selber beinahe auslöscht, am Ende aber ein Angebot erhält: das Angebot, sich nicht mehr an die erdrückenden Spielregeln des Umfelds halten zu müssen.

Dass der Film bei den Golden Globes und bei den Oscars als bestes Filmdrama ausgezeichnet wurde, wird ihm zu einem grossen Publikum verhelfen. An manchen wird Moonlight vorbeiziehen, ohne tiefe Eindrücke zu hinterlassen; das ist in Ordnung so. Diejenigen, die sich in Chiron wiedererkennen, werden ihn ein Leben lang nicht vergessen. Für sie ist er gemacht.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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