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Insyriated

Bilder einer Normalität, die es nicht mehr gibt: Philippe Van Leeuws Film führt mitten ins Herz des syrischen Bürgerkriegs.

Text: Gerhard Midding / 25. Juli 2017

«Vergiss die Welt da draussen», sagt der Grossvater resigniert, «sie zählt nicht mehr.» Dennoch kann er nicht anders, als zu Beginn jeden Tages aus dem Fenster zu schauen: Der Wunsch nach Teilhabe an der Welt erlischt auch im Krieg nicht. Im Schutz der Vorhänge blickt er auf den Hof, der mit Sandsäcken bewehrt ist. Mehr als diesen Flecken Erde hat er seit Wochen, vielleicht Monaten nicht mehr gesehen. Die Wachsamkeit der Scharfschützen macht jeden Gang nach draussen zu einem untragbaren Risiko. Die Zukunft, die der alte Mann einst für seine Kinder und Enkel schaffen wollte, liegt in Trümmern.

Beim ersten Schwenk durch die Wohnung beharrt die Musik von Jean-Luc Fafchamps noch darauf, dass hier einmal ein friedliches Leben möglich war. Nun bieten die Räume dem Grossvater, seiner Familie und den Nachbarn aus dem fünften Stock eine prekäre Zuflucht. Sie sind die letzten Bewohner, die noch in dem zerbombten Haus ausharren. Jederzeit haben sie einen Fliegerangriff zu gewärtigen; die langen Gänge des Apartments sind kein zuverlässiger Ersatz für einen Schutzkeller. Die Eingeschlossenen haben sich darauf eingestellt, dass das Aufatmen danach immer nur vorläufig ist. Der Kriegslärm kommt mal näher, mal entfernt er sich. Ganz still mag, kann die Tonspur nie sein. Die Wohnung ist unversehrt und ihre Tür gut gesichert. Drei Balken verwehren Einbrechern den Zutritt. Aber was sollen sie gegen einen Bürgerkrieg ausrichten?

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Nur die erste Einstellung von Insyriated zeigt die Fassade des Hauses, danach trägt sich der Film fast vollständig im Wohnungsinnern zu. Sein erzählerischer Rahmen wird nicht nur durch den Schauplatz begrenzt, sondern auch durch die erzählte Zeit: Die Handlung spielt sich innerhalb von 24 Stunden ab, an einem Tag, der so verlaufen könnte wie der vorangegangene oder der folgende. Diese Momentaufnahme genügt Philippe Van Leeuw, um die humanitäre Kata­strophe des Bürgerkriegs in Syrien dingfest zu machen. Der belgische Regisseur (der zuvor als Kameramann frühe Filme von Bruno Dumont, aber auch zahlreiche Dokumentationen fotografiert hat) verleiht dessen Opfern eine Sichtbarkeit, die sie in den Medien längst nicht haben. Der Film will nahe bei seinen Figuren bleiben. Er führt ins Private, lotet nicht die politischen Widersprüche dieses Krieges aus.

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Insyriated ist ein verzweifeltes, ein zorniges Kammerspiel. In seinem Mittelpunkt steht die Matriarchin Oum Yazan, die die kleine Notgemeinschaft mit strenger Hand führt. Sie weiss, dass nur der Zusammenhalt eine Aussicht auf Überleben bietet. Dieser Tag hält furchtbare Prüfungen für sie bereit. Der junge Ehemann der Nachbarin Halima wird frühmorgens von der Kugel eines Scharfschützen getroffen, was vor seiner jungen Frau vorerst verheimlicht werden muss. Am Nachmittag dringen Plünderer in die Wohnung ein. Die Festung bietet nun keinen Schutz mehr. In einer beklemmenden Sequenz zeigt Van Leeuw, dass Frauen stets das erste Opfer marodierender Krieger sind. Die Kamera bleibt fixiert auf die Gesichter, auf die verzweifelten Blicke der Ohrenzeugen. Aber nun gestattet der Film auch dem Pathos Zutritt. Er zeigt die geschändete Halima in einer verstörenden Pietà, im einen Arm ihr Neugeborenes und im anderen das Handy, mit dem ihr Mann nicht zu erreichen ist. Oum Kazan, die mit lauter Situationen konfrontiert ist, in der sie keine richtigen Entscheidungen treffen kann, legt sich auf den langen Esstisch und streckt die Arme aus.

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Wie unter einem Brennglas bündelt Insyriated das Schicksal der syrischen Zivilbevölkerung. Neben seinem Figurenensemble spielt die Wohnung dabei die tragende Rolle: als Refugium wie als Spur, die in das frühere Leben führt. Präzis verwurzelt Van Leeuw sein Drama in einem bürgerlichen, liberalen Milieu. Auf der Anrichte steht eine stolze Galerie von Familien­fotos, die Bücherregale sind prall gefüllt und die Töchter vergnügt missmutige Teenager. Überhaupt wirkt die Familie wenig exotisch, sondern erleichtert westlichen Zuschauern eine augenblickliche Identifikation. Das ist keine bequeme, aber eine umkomplizierte Einfühlung: Van Leeuw zeigt Figuren, die ihre Würde bewahren wollen. Die Hygiene darf auf keinen Fall vernachlässigt werden. (So viele Zahnbürsten wie in diesem Badezimmer hat man noch nie im Kino gesehen!) Die Familie hält die Mahlzeiten streng ein, obwohl es seit Tagen nichts anderes als Bulgur oder Reis gibt. In diesem Krieg ist es überlebenswichtig, dem Alltag eine Norma­lität zu geben, die er nicht mehr hat.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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